Die deutsche Bundesregierung verhält sich in den letzten Tagen und Wochen beinahe schizophren. Auf der einen Seite solidarisieren sich völlig zurecht viele deutsche Politiker*innen mit dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, fordern dessen Freilassung und kritisieren den Kreml dafür scharf. Auf der anderen Seite betreiben unzählige Minister*innen, Ministerpräsident*innen und nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel enorme Lobbyarbeit für die angebliche „fast letzte Brücke zu Russland“ (Zitat von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 06.02.2021). Die Rede ist von der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2.  

Die Fertigstellung dieser Erdgas-Pipeline wäre „energiewirtschaftlich unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel“, so Claudia Kemfert, eine Autorin für eine Studie des DIW aus dem Jahr 2018, welche sich genau mit diesem Thema beschäftigte. Die Kritik an diesem Projekt bestand also schon seit einigen Jahren, flammte jedoch seit der Verhaftung Nawalnys erneut auf.  

Doch was ist Nord Stream 2 eigentlich genau? 

Um diese Frage zu beantworten, muss man zeitlich etwas zurückgehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war es für deutsche Energieunternehmen lukrativ in russische Erdgaswirtschaft zu investieren. So fusionierten beispielsweise 2002 die Energiekonzerne E.ON und Ruhrgas unter dem Vorwand, die deutsche Energieversorgung mit Erdgas aus Russland zu sichern. Obwohl damals Monopolvorwürfe laut wurden, kam es zu einer Genehmigung dieser Fusion. Sehr zur Freude russischer Erdgasunternehmen, welche nun eine Chance sahen, neue Märkte in Westeuropa zu erschließen.  

Anfangs versuchte Russland sein Erdgas hauptsächlich über die Ukraine an die westeuropäischen Abnehmer*innen zu exportieren. Jedoch wurde die Transportroute über die Ukraine wegen vermehrter politischer Konflikte immer schwieriger für die staatlichen Gaskonzerne Russlands. So versuchte die russische Regierung Alternativen zur Transitroute über die Ukraine zu finden. Im Jahr 2011 wurde schließlich die Gaspipeline Nord Stream 1 eröffnet, welche das Erdgas vom russischen Wyborg, nahe der Stadt Sankt Petersburg über die Ostsee bis nach Lubmin, im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern transportierte.  

Doch wenn man nun einen Blick auch auf die „jüngere Schwester“ Nord Stream 2 wirft, wird klar, dass Russland mit diesen Projekten ganz klar Geopolitik betreibt. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 und seit dem Krieg im Donbass bemüht sich der Kreml zunehmend um eine Diversifizierung seiner Erdgas-Exportrouten. Eine davon ist Nord Stream 2, welche ebenfalls wie Nord Stream 1 Erdgas von der Region Sankt Petersburg nach Mecklenburg-Vorpommern und von dort in verschiedene europäische Staaten transportieren soll.  

Dieses Projekt ist umstritten und das völlig zurecht. 

Der erste Kritikpunkt betrifft die Außenpolitik Deutschlands und weiterer europäischer Länder: Nach Außen hin wird Nord Stream 2 als europäisch-russisches Energieprojekt auf Augenhöhe dargestellt. Doch diese Darstellung entspricht mit Nichten der Realität. Zwar waren zu Beginn europäische Energieunternehmen (Deutschland mit Uniper und Wintershall, Österreich mit OMV, Frankreich mit Engie und das britisch-niederländische Unternehmen Royal Dutch Shell) gemeinsam mit Gazprom an der Nord Stream 2 AG beteiligt, jedoch besaß der russische Staatskonzern schon seit Gründung im Jahr 2015 den größten Anteil an der Aktiengesellschaft. Ein Jahr später zogen sich die europäischen Unternehmen vollständig aus der Nord Stream 2 AG zurück und überließen so Russland die alleinigen Anteilsrechte.  

Altkanzler Gerhard Schröder wurde zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Nord Stream 2 AG ernannt und betrieb bereits damals enorme Lobbyarbeit für die Umsetzung des Projekts. Durch das bisweilen rücksichtslose Vorgehen Gazproms und von Vertreter*innen Russlands zeigte sich schnell, dass Russland mit Nord Stream 2 mehr als nur wirtschaftliche Interessen verfolgt. Bei einer Fertigstellung und Inbetriebnahme der Gaspipeline könnte sich Europa noch abhängiger von russischen Gasexporten machen und wäre somit bei Konflikten, wie in der Ukraine, leichter von Russland erpressbar. Die russische Regierung könnte womöglich eine Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen der EU fordern und damit weiterhin ihre Macht demonstrieren. Kritik am Kreml, wie in der Causa Nawalny, würde vielleicht in Zukunft nicht mehr so einfach werden. Deutschland und seine europäischen Partner*innen sollten deshalb die Stärke besitzen, die Fertigstellung von Nord Stream 2 zu verhindern und nicht mit einem Regime, welches Menschenrechte und demokratische Partizipation mit Füßen tritt, zusammenarbeiten.  

Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens. Macht es wenigstens aus ökonomischen Gesichtspunkten Sinn, eine weitere Erdgas-Pipeline in der Ostsee zu bauen? 

Keineswegs. Eines der Ziele der Projektgesellschaft um Nord Stream 2 ist die nachhaltige Stärkung der europäischen Energiesicherung. Dies würde somit einen Nachfrageüberhang europäischer Staaten nach Erdgas voraussetzen. Tatsächlich wurde jedoch eine sinkende Nachfrage Deutschlands nach Erdgas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten berechnet. In Zukunft wird fossiles Erdgas generell nur noch eine untergeordnete Rolle in der deutschen Energieversorgung spielen. Gründe dafür sind vor allem die langfristig niedrigen Strompreise, hohe Überkapazitäten in der konventionellen Energieproduktion und Fortschritte im Bereich der regenerativen Energien. Somit zeigt sich deutlich, dass es derzeit und auch in den kommenden Jahrzehnten keinen Bedarf für zusätzliche Erdgasimporte geben wird.  

Doch wie sieht es mit den Kosten und Erlösen aus? 

Ebenfalls nicht gut. Die Baukosten von insgesamt 9,5 Milliarden Euro werden zur Hälfte von Russland, zur anderen Hälfte von den europäischen Teilnehmerstaaten getragen. Insgesamt werden die Kosten für Nord Stream 2 mit 17 Milliarden US-Dollar angegeben, die kalkulierte Ersparnis für die Umgehung der Ukraine wurde nur mit 700 Millionen US-Dollar angegeben. Da sich aber, wie oben bereits erläutert, der Absatz an Erdgas in Europa nicht erhöhen wird, sondern sogar verringern wird, wird jährlich mit Verlusten in Milliardenhöhe gerechnet. Zusätzliche Gasleitungen in Deutschland, welche für die Fertigstellung von Nord Stream 2 benötigt werden, kosten noch einmal etwa 500 Millionen Euro, welche auf die Verbraucher*innen umgelegt werden sollen.  

Mögliche weitere ökonomische Konsequenzen, welche aktuell noch nicht kalkuliert werden können, sind beispielsweise Wirtschaftssanktionen der USA gegen europäische Staaten. Sowohl die damalige Trump-Administration als auch die aktuelle Regierung unter Präsident Joe Biden stehen dem Vorhaben ablehnend gegenüber. Sanktionsdrohungen der USA führten bisweilen schon zum Ausstieg einiger Firmen aus Nord Stream 2 und gefährden möglicherweise die Fertigstellung des Projekts auf den letzten, fehlenden Kilometern. So belegte die ehemalige Regierung unter Donald Trump noch am 25.01.2021 das russische Unternehmen KVT-RUS mit Sanktionen und erklärte das Verlegeschiff „Fortuna“ zu „blockiertem Eigentum“. Doch auch unter Präsident Biden sind weitere Maßnahmen gegen russische und auch europäische Unternehmen nicht völlig ausgeschlossen. Der Standpunkt der neuen US-Regierung bleibt der gleiche wie unter Trump. Die deutsche Bundesregierung bemühte sich währenddessen schon um „Einigungsversuche“ mit den Vereinigten Staaten. 

Es steht also völlig außer Frage, dass dieses Projekt ökonomisch gänzlich unrentabel ist.  

Doch auch aus ökologischen Gründen kann und muss Nord Stream 2 kritisiert werden.  

Im Jahr 2020 hat das Institut für Volkswirtschaftslehre und Recht an der Technischen Universität Berlin ein Rechtsgutachten über die Umweltverträglichkeit einer weiteren Gaspipeline in der Ostsee und aller damit einhergehenden Konsequenzen erarbeitet. Das Resultat des Gutachtens war alarmierend. So gebe es „erhebliche Hinweise darauf […], dass die Methanemissionen der Gasförderung in Europa und Russland tatsächlich höher sind, als bislang angenommen bzw. von den Vorhabenträger[*innen] angegeben.“ (Zitat von der Umwelt-Rechtsanwältin Cornelia Ziehm aus der „WirtschaftsWoche“ vom 05.03.2020).  

Laut der Deutschen Umwelthilfe muss der Einfluss von Erdgas auf das Klima noch genauer erforscht werden. Des Weiteren muss geklärt werden, unter welchen ökologischen Standards das Erdgas gefördert werden kann, wie es verarbeitet und transportiert werden kann. Die Verbrennung von Erdgas an sich ist weitgehend umweltschonend, jedoch wird beim Abbau des fossilen Gases Methan freigesetzt. Dies ist dahingehend problematisch, weil Methan ein weitaus klimaschädlicheres Gas als Kohlenstoffdioxid ist. Die Auswirkung von Methan auf unser Klima ist in etwa 84-mal stärker als das bei Kohlenstoffdioxid der Fall ist, bei einer Betrachtung über einen Zeitraum von 20 Jahren. Laut Aussagen der Nord Stream 2 AG werden alle anerkannten Standards sowohl bei der Förderung als auch beim Transport umgesetzt. Dies wird allerdings von der Deutschen Umwelthilfe stark angezweifelt, weshalb weitere Überprüfungen durchgeführt werden sollen, welche das Projekt verzögern würden. Die an Nord Stream 2 beteiligten Unternehmen sehen keinen Grund für weitere Überprüfungsmaßnahmen und verweisen stattdessen auf die Genehmigungen diverser Behörden, wie durch das Bergamt Stralsund für die Anladestation und das deutsche Küstenmeer.  

Die deutsche Regierung sollte jegliche Beteiligung an Nord Stream 2 einstellen, denn Deutschland gefährdet dadurch seine eigene Energiewende und seine Klimaziele, setzt mutwillig die Souveränität der Ukraine und weiterer Staaten aufs Spiel, investiert Unmengen an Geld in ein nicht zukunftsfähiges, unrentables und unwirtschaftliches Vorhaben und zieht sich selbst blindlings in eine geopolitische Katastrophe ungeahnten Ausmaßes hinein. Die Bundesregierung wäre besser beraten, wenn dieses Geld dort eingesetzt werden würde, wo es aktuell so dringend gebraucht wird: Im Bildungssystem, für erneuerbare Energie, für Klimaforschung, für die Mobilitätswende und in unser Gesundheitswesen.  

Ich kann mich noch genau erinnern, als ich damals die Eilmeldung auf mein Handy bekam: „Zahlreiche Menschen in Wuhan an mysteriöser Lungenkrankheit erkrankt.“. Das war Anfang Januar, als noch niemand wirklich etwas über das neuartige Corona-Virus SARS-Cov2 wusste. Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch nicht mit einer weltweiten Pandemie rechnen.
Und nun (Stand: 28.03.2020; 12:00 Uhr; Quelle: Robert-Koch-Institut) sind weltweit über 605.000 Menschen infiziert, davon über 50.000 Menschen in Deutschland. Eine verlangsamte Entwicklung der Neuinfektionen ist derzeit noch nicht in Sicht und laut diverser Aussagen von führenden Virolog*innen und Mediziner*innen steht uns das Schlimmste erst noch bevor.
Covid-19, wie die durch das Corona-Virus ausgelöste Lungenkrankheit bezeichnet wurde, stellt uns vor schwere ethische, soziale und auch ökonomische Probleme. Denn wenn sich SARS-Cov2 weiterhin so schnell und gravierend verbreitet wie dies aktuell der Fall ist, rechnet Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, mit mehr als zehn Millionen Infizierten in Deutschland in zwei bis drei Monaten. Darum gilt es diese „Kurve“ abzuflachen, um das Gesundheitssystem und die Pflege zu entlasten, da wir nicht die Kapazitäten in den Krankenhäusern und die Ausrüstung haben, um so eine hohe Zahl an Patient*innen versorgen zu können.
Als wäre das nicht schon genug, kommen auch noch wirtschaftlichen Herausforderungen auf uns zu. Die Ausgangsbeschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen bestehen erst seit einigen Tagen in Deutschland, ebenso wie die Abriegelung der Außengrenzen. Ein Blick auf die Märkte zeigt, wie schwer die Krise uns schon im Griff hat: Stand der DAX (Deutscher Aktienindex) Ende Februar diesen Jahres noch bei knapp 13.800 Punkten, ein Allzeithoch, so rutschte er Mitte März innerhalb weniger Tage bis auf den vorerst niedrigsten Tiefstand von unter 8.500 Punkten.
Die Europäische Kommission, der IWF und die OECD sprechen mittlerweile schon offen von einer Rezession, also einem wirtschaftlichen Abschwung. Doch was bedeutet das für Deutschland?
Wir müssen mit einer der schwersten Wirtschaftskrisen seit Ende des Zweiten Weltkriegs rechnen, die möglicherweise sogar noch schwerwiegender als die Wirtschaftskrise 2008 werden könnte. Momentan haben wir es mit einer regelrechten Abwärtsspirale in verschiedenen Bereichen zu tun:
Durch die von der Regierung verhängten Ausgangsbeschränkungen und Grenzkontrollen, sowie durch die generelle Angst vieler Menschen, kommt es unter Anderem zu Lieferengpässen bei Importen wichtiger Güter. Diese Güter fehlen dann wieder bei der Produktion in den Unternehmen, was zu Gewinneinbrüchen bei den Unternehmen führt. Aufgrund dessen halten sich derzeit auch viele Kapitalanleger*innen und Investor*innen zurück, was die Betriebe zusätzlich unter Druck setzt.
Diese Rezession wird sich in den nächsten Wochen und Monaten weiter verstärken, mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft.
Die kleinen und mittelständischen Betriebe, sowie Solo-Unternehmer*innen werden noch viel mehr als jetzt auf Staatshilfen und KfW-Darlehen angewiesen sein, als dies jetzt der Fall ist. Unternehmen, wie diese bilden das Rückgrat unserer Gesellschaft und aus diesem Grund müssen wir alles tun, um diese zu retten. Man muss über radikale Maßnahmen wie Steuersenkungen, weitreichende Subventionen oder sogar Steuerrückzahlungen nachdenken.
Auch die Arbeiternehmer*innen dürfen nicht vergessen werden. Massenarbeitslosigkeit, drohende Privatinsolvenzen und schlechte Arbeitsbedingungen, wie zu lange Schichten aufgrund Personalmangels, müssen verhindert werden. Um dem Einhalt zu gebieten, muss man einerseits die Betriebe unterstützen, andererseits diese auch in die Pflicht nehmen, ihren Angestellten, soweit möglich z.B. Home-Office zu ermöglichen. Ver.di denkt sogar über ein sogenanntes „Helikoptergeld“ nach. Hierbei würde der Staat Direktzahlungen, z.B. in Form von Schecks, an Bürger*innen durchführen, um finanzielle Notlagen etwas abzufedern. Die Politik muss auch für Privatpersonen über Steuersenkungen und stärkere Transferleistungen, sowie Umverteilung nachdenken.
Was die großen Global Player in Deutschland angeht, wird sich in den nächsten Wochen die Frage stellen, welches Unternehmen mit Hilfe staatlicher Unterstützung wieder auf die Beine kommt und welches nicht. In Italien denkt man sogar schon über Verstaatlichung bestimmter Betriebe nach. Auch hier bei uns wäre dies eine Option, wenn auch zunächst in Form von staatlicher Beteiligung für eine unbestimmte Zeit. Eine weitere Maßnahme könnten auch Unternehmenszusammenschlüsse, z.B. durch Fusionen sein.
Dies sind alles Vorschläge, um den Schaden zu begrenzen, dessen muss man sich jedoch bewusst sein. Es wird eine Zeit nach Corona geben und für diese müssen wir gerüstet sein. Das aktuelle Krisenmanagement der Bundesregierung beweist, dass schon viel getan wird, jedoch auch noch viel getan werden muss. Trotz alldem sollten wir optimistisch sein und die Ruhe bewahren.
Um es mit den Worten von Willy Brandt zu sagen:
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Blickt man in die Medien, sowohl in die Printausgaben der Zeitungen, als auch in die immer wichtiger werdenden Online-Zugänge, sowie auch in die Kommentarspalten der sozialen Netzwerke – es könnte der Eindruck entstehen, der Juso-Vorsitzende habe die sofortige Zerschlagung aller Unternehmen gefordert und die Sozialistische Sowjetrepublik Deutschland ausgerufen.

Auch wenn dieser Eindruck von so mancher, teils sogar von einstmals als seriös wahrgenommener Seite bestärkt wird, er könnte falscher nicht sein. Die Debatte, die Kevin Kühnert angestoßen hat, ist längst überfällig und sie muss dieses Land bis ins Mark erschüttern: jeder Versuch, sich dieser Debatte zu entziehen spricht entweder für eine massive intellektuelle Schwäche, wie sie gerade unser Verkehrsminister erneut beweist – oder aber, was viel schlimmer wiegt, für die Akzeptanz des Status Quo und damit einen Umstand, den niemand unterstützen kann, der*die ein grundlegendes Interesse an einer lebenswerten Zukunft, nein, überhaupt an einer Zukunft für diesen Planeten hat. Es ist unbestreitbar, dass unsere deutsche und europäische Art zu Wirtschaften nicht gesund und nicht vernünftig ist. Nicht gesund, weil gerade aus globalem Blickwinkel die Probleme mit jedem Tag zunehmen: der menschgemachte Klimawandel schreitet unaufhörlich voran und der Mensch zerstört sich seine eigene Lebensgrundlage. Nicht vernünftig ist sie, weil ausgerechnet die Profiteure dieser Zerstörung nicht die Leidtragenden sind und alles daran setzen, es auch nicht sein zu müssen, wie unter anderem der Aufschrei der Wirtschaftslobbyisten in der SPD beweist.

In einem schrecklichen Maße beschämend hingegen ist die Reaktion vieler Kritiker*innen. Da wird mit historisch unhaltbaren Vergleichen „argumentiert“, es werden ganz offen falsche Aussagen verbreitet, die so nie getroffen wurden – und wer es wagt, diese Form des öffentlichen Anprangerns eines Andersdenkenden überhaupt anzusprechen, dem wird gerne und schnell vorgeworfen, er*sie sei unsolidarisch und das auch noch mitten im Wahlkampf. Wenn das ein Ausdruck moderner Debattenkultur sein soll, man kann der Menschheit nur viel Glück wünschen, mit der Vernunft ist es dann nämlich nicht weit her.

Kevin Kühnert hat im Interview mit der ZEIT nämlich eine ganze Reihe vernünftiger Vorschläge gebracht, die allesamt diskussionswürdig sind. Der Vorwurf, diese Gedankengänge seien nicht mehrheitsfähig mag nicht falsch sein – aber wäre das der Maßstab für die Relevanz einer Idee, es gäbe keine Partei in Deutschland, die noch Wahlprogramme drucken dürfte. Die Schnappatmung mit der aus konservativer und vermeintlich-liberaler Ecke reagiert wird, offenbart den getroffenen Nerv: es geht schlichtweg um eine neue Form des Wirtschaftens und damit letztendlich auch des Lebens selbst. Will sich der Mensch befreien aus seiner Misere, dann muss er bereit dazu sein, bestehende Strukturen umzuwerfen und neu zu denken – nicht im Sinne einer Unterhemd-Posterboy-Kampagne, nein, in dem Sinne, der die SPD überhaupt erst notwendig machte: um allen Menschen eine Teilhabe am großen Kuchen zu ermöglichen, der tagtäglich verteilt wird.

Mit dem sog. Grundeinkommensjahr präsentiert die Parteiführung der SPD, allen voran deren Generalsekretär Lars Klingbeil, einen Vorschlag, der zur Antwort auf die Veränderung des Arbeitslebens erklärt wird. Im Wesentlichen soll durch Erwerbsarbeit im Umfang von sechs bis zwölf Jahren der Anspruch auf ein Grundeinkommen in Höhe von 1000 EUR pro Monat für sechs bis zwölf Monate, je nach Anwartschaftszeit, erworben werden. Im Rahmen dieser bezahlten Auszeit sollen Arbeiter*innen sich erholen, sich weiterbilden, neu orientieren oder die Selbstständigkeit vorbereiten.

Die grundsätzliche Idee ist keine schlechte, und sie passt gut in unsere heutige Zeit: Bestand in den 60ern die Errungenschaft der Industrie noch darin, immer größere Stückzahlen zu günstigeren Preisen zu produzieren, so ist die große Innovation des 21. Jahrhunderts das Maßschneidern von Produkten auf Einzelbedürfnisse von Konsument*innen. In der Konsequenz stiegen und steigen Qualifikationsanforderungen an Arbeiter*innen, welche komplexere und individuellere Güter produzieren, stetig an. Folglich spielt Qualifikation und Weiterqualifizierung eine immer wichtigere Rolle.

In diesem Zeitalter der individualisierten Güter haben sich, während die Politik eine eher beobachtende Rolle einnahm, Arbeiter*innen längst angepasst: Immer mehr Menschen erlangen das Abitur, weil sie wissen, dass die Arbeitswelt hohes Wissen erfordert, und auch die Zahl der Studierenden nimmt stetig zu. Gleichzeitig steigt unbezahlte Mehrarbeit durch das Eindringen der beruflichen Tätigkeit in die Freizeitgestaltung von Arbeiter*innen und stete Erreichbarkeit. Ergebnis dieses Vereinnahmen der Freizeit durch die Arbeit ist auch der junge Tarifabschluss der IG Metall, welcher Arbeiter*innen mehr Selbstbestimmung über ihre Zeit einräumt. Überhaupt rückt das Thema Arbeitszeitreduktion stärker in den Mittelpunkt von Arbeitsmarktdebatten, anstelle von Lohnerhöhungen.

Während sich also Arbeiter*innen im Bildungs- und Ausbildungssystem anpassten, und gemeinsam mit den Gewerkschaften Anpassungen im Arbeitsalltag erzwangen, blieb der politische Rahmen trotz der geänderten Wünsche und Anforderungen vonseiten der Arbeitgeber*innen wie der Arbeitnehmer*innen nahezu konstant, wenn man Irrwege wie die Etablierung des achtstufigen Gymnasiums (im Übrigen genau die falsche Antwort auf gestiegene Qualifikationsanforderungen, wie sich später herausstellte; die Bologna-Reform schlägt in eine ähnliche Kerbe) außer Acht lässt. Umso wichtiger ist es daher, zu sehen, dass sich die politischen Kräfte nun um eine Reform der Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse bemühen.

Dabei schlägt das Grundeinkommensjahr (sofern es denn ein Jahr ist) in die richtige Kerbe: Mehr Freiraum für Selbstverwirklichung, damit auch Arbeiter*innen von den Produktivitätszuwächsen der Digitalisierung profitieren können, ist grundsätzlich die richtige Antwort auf eine geänderte und sich stetig ändernde Arbeitswelt. Dennoch ist der Vorschlag in seiner Ausgestaltung fragwürdig und kann nur Teil einer umfassenden Reform des Arbeitsmarkts, des Ausbildungssystems und der Bildung sein.

In sechs bis zwölf Monaten Auszeit lassen sich weder Ausbildung noch Studium absolvieren, vielmehr taugt der Rahmen für Weltreise, Urlaub und ähnliche Aktivitäten des gepflegten Mittelstands. Die soziale Unterschicht, die Weiterqualifizierung gerade am nötigsten hat, kann weder auf ein geregeltes Einkommen auf Mindestlohnniveau, noch auf die damit einher gehenden Rentenpunkte, verzichten. Damit zielt das Grundeinkommensjahr an denen vorbei, die es am dringendsten brauchen.

Nötig wäre vielmehr ein Bildungskonzept, welches sich weg vom starren Korsett des dreigliedrigen Schulsystems bewegt und Alternativen zum Frontalunterricht und zum Binge-learning bietet, beispielsweise durch ein Gesamtschulkonzept mit hohem Betreuungsmaß, Förderung individueller Stärken und der Garantie eines Wissensstands, der deutlich oberhalb des gegenwärtigen Mittelschulniveaus liegt. Nötig wäre zudem ein attraktiveres Ausbildungssystem, mit besserer Bezahlung, Qualitätssicherung und Kontrolle. Nötig wäre auch eine Novelle der Weiterqualifizierungsmaßnahmen aus den Sozialgesetzbüchern, sodass diese als Chance verstanden werden können, und nicht länger als Bestrafung für undisziplinierte Arbeitslose. Nötig wäre weiterhin die Sicherung gerechter Löhne, die es von sich aus erlauben, eine Auszeit zu nehmen oder die Arbeitszeit zu reduzieren, ohne gleich um die eigene Existenz bangen zu müssen. Und schließlich wäre auch eine Diskussion um eine flächendeckende Arbeitszeitsenkung notwendig, die steigende Pendelzeiten, unbezahlte Mehrarbeit zuhause und intensivere Arbeit durch gestiegene Qualifikationsanforderungen berücksichtigt und Beschäftigte entlastet. Ein solches Reformpaket mag dann gerne ein bedingungsloses Grundeinkommensjahr enthalten. Es wird darin aber eine untergeordnete Rolle spielen, sofern man den Aufgaben unserer Zeit gewachsen sein möchte.

 

2018 ist ohne jeden Zweifel ein besonderes Jahr. Die Pro-GroKo-Entscheidung der SPD-Mitglieder, der Rücktritt vom Rücktritt Seehofers, das frühe WM-Aus der deutschen Nationalmannschaft und jetzt – nun, jetzt dominiert ausnahmsweise mal wieder das Wetter die Schlagzeilen. Zu heiß, zu trocken und ab und an ziehen donnernde Gewitter auf. Das Wetter, ausgerechnet jenes leidige Thema, welches beim Smalltalk nicht fehlen darf, spielt augenscheinlich verrückt und zeigt uns, dass Klimawandel nun wirklich keine leere Hülle von Begrifflichkeit ist, sondern ein real existierendes Phänomen unter dem andere Teile der Welt bereits deutlich länger und deutlich intensiver leiden müssen. Und während die derzeitigen Temperaturen in vielen Büros und Produktionsstätten für helle Aufregung sorgen und der Wunsch nach einer Klimaanlage wohl jeder Person derzeit innewohnt, gibt es eine Branche, welche erklärtermaßen besonders betroffen ist – die Landwirtschaft. Es drohen Ernteausfälle, wie sie Deutschland seit langer Zeit nicht mehr erleben musste. Manche Betriebe sprechen bereits von über 50% Ertragsausfall, die Getreideernte wird auf nicht einmal mehr 40 Tonnen prognostiziert – weit unter dem Durchschnitt der vergangenen Jahre von rund 47 Tonnen. Auch Mais, Futtergerste und andere Saatgüter leiden unter der sengenden Hitze. Schlimme Nachrichten auch für alle Pommes-Liebhaber*innen: die Kartoffeln wachsen dieses Jahr äußerst schlecht.

Unter diesen Voraussetzungen erscheint der Ruf nach staatlicher Unterstützung, bestenfalls in Milliardenhöhe, verständlich und logisch. Der Bauernverband als größte Lobbyorganisation der landwirtschaftlichen Betriebe nimmt die Politik in die Verantwortung, sie solle die Ausfälle und den damit verbundenen wirtschaftlichen Schaden abschwächen, im besten Fall ausgleichen. Schnell werden Vergleiche mit Umweltkatastrophen wie Hochwassern angestellt – auch da gäbe es ja meist unkomplizierte staatliche Unterstützung – und die derzeitige Dürreperiode mag in den Augen der Betroffenen wirklich wie eine Katastrophe wirken. Was also macht die Politik? Sie zeigt sich erstaunlich offen für finanzielle Beihilfen. Während die Gräben bei vielen Themen, insbesondere wenn sie auch nur im entferntesten mit Migration verknüpft werden können, tiefer nicht sein könnten, scheint die geforderte Entlastung der Landwirtschaft bereits ausgemachte Sache zu sein. Die Lobbyarbeit insbesondere des Bauernverbandes wirkt jedoch noch weiter. Denn nicht nur mit Geld soll geholfen werden: Auf den Ausgleichsflächen, welche, um die Bodenbelastung zu reduzieren, nicht beackert werden dürfen, soll den Landwirt*innen der Anbau erlaubt werden – der Umweltschutz wird also (wieder einmal) geopfert um die Erträge der Betriebe sicherzustellen. Die Maßnahmen, welche nun ergriffen werden sollen, schießen an der eigentlichen Problematik allerdings weit vorbei: Landwirtschaft in ihrer aktuellen Form in Deutschland kann nicht funktionieren. Ohne staatliche Subventionen im Allgemeinen wären die meisten Betriebe generell nicht überlebensfähig. Rund 40% der Erträge stammen laut Schätzungen aus Subventionen, werden also gezahlt, bevor auch nur ein einziger Samen gesät und ein einziges Tier gefüttert wird. Dieser Umstand ist umso problematischer, als der Trend zu immer größeren Betrieben geht: Während der Anteil der Betriebe mit über 100 Hektar Nutzfläche bei nur 13% liegt, vereinen diese mittlerweile über 59% der gesamten Nutzfläche auf sich. Zúm Vergleich: Fast ein Viertel der Betriebe kann nicht mehr als 10 ha vorweisen – und macht damit gerade einmal 2,2% der gesamten landwirtschaftlichen Fläche aus. Die Profiteure von Subventionen und staatlichen Hilfen indes sind, ähnlich wie in allen anderen Wirtschaftszweigen, nicht die Kleinen. Denn es wird in erster Linie nach Größe verteilt – nicht danach ob die Art zu wirtschaften nachhaltig ist oder ob gehaltene Tiere ein vernünftiges Leben führen können. Und obwohl der Anteil der Landwirtschaft am BIP bei nicht einmal 1% liegt, ist sie gleichzeitig für rund 7,2% der Emissionen im Land verantwortlich. Gerade hier zeigt sich auch die ganze Krux dieser Industrie: Während die Großbetriebe durch politische Lobbyarbeit einen Geleitschutz für ihre umweltschädigende Arbeit haben, leiden Kleinstbetriebe am meisten unter den Auswirkungen des Klimawandels.

Finanzielle Hilfen, wie sie wahrscheinlich kommen werden, verlagern das Problem nur weiter in die Zukunft. Es besteht kein Grund, insbesondere für große Betriebe, umzudenken – immerhin kann man sich fast sicher sein, die Politik springt im Zweifel ein. Ähnlich, wenn auch im kleineren Maßstab, wie in der Bankenkrise, nimmt man den Verantwortlichen die Last ab und bestätigt sie somit in ihrem Kurs. Notwendiger wäre in Deutschland und Europa hingegen ein drastischer, agrarpolitischer Kurswechsel. Weg von den Monokulturen auf weiten Feldern, weg von der industriellen Tierhaltung, welche in erster Linie Leid und Dreck produziert und keine schönen, zarten Filetsteaks. Dieser Kurswechsel wird allerdings nicht vom Himmel fallen, er muss politisch gewollt sein und er muss für die Betriebe die einzige Alternative zur Geschäftsaufgabe sein. Ansonsten wird sich die Landwirtschaft in Deutschland nur noch katastrophaler entwickeln: das Sterben der Kleinbetriebe wird zu immer größerer Konzentration von Flächen in den Händen weniger führen – die dank der deutschen und europäischen Subventionspolitik auch kein Interesse an wirklich nachhaltiger Arbeit entwickeln können. Der Appell an die Politik ist also klar: Streicht die angedachten finanziellen Hilfen. Lasst die Betriebe leiden – um sie stärker zu machen und ihnen neue Perspektiven aufzuzeigen. Trotz aller Hitze – manche können sich nämlich freuen: Obst wächst fantastisch und gerade die Winzer*innen jubeln, denn die Ernteaussichten könnten schöner nicht sein. 2018 bietet uns erneut die Chance, umzudenken und umzusteuern – nutzen wir sie.

Am Ende des EU-Gipfels steht ein simples Ergebnis: Teile des Fundaments der Europäischen Union werden demontiert. Die Solidarität, einst das Komplement zur wirtschaftlichen Freizügigkeit und damit der Sicherungsmechanismus gegen Marktversagen, ist dahin. Übrig bleibt eine Union, in der Entscheidungen auf Minimalkonsens reduziert werden. Jegliche Vereinbarung, die kurzfristigen nationalen Interessen zuwider läuft, wird, obgleich ihrer langfristigen Vorteilhaftigkeit, für nichtig erklärt. Das Ziel der langfristigen EU-Integration, des Zusammenwachsens, der Vereinigten Staaten von Europa, ist weit in die Ferne gerückt, in manchen Ländern aufgegeben.

Dies alles ist Ergebnis einer nationalen Politik, die entweder bereits von Rechtspopulist*innen gestaltet wird, wie in Österreich, Ungarn, Italien oder Polen, oder einer Politik, die aus der Angst heraus, kurzfristig mit unpopulären Maßnahmen Prozentpunkte in Umfragen an Rechtspopulist*innen abzutreten, gelähmt in ihrem Gestaltungsanspruch ist, wie in Deutschland oder den Niederlanden. 

Man kann den demokratischen Kräften Europas ein einfaches Zeugnis ausstellen: Die Aufgabe ihrer humanitären Grundwerte in der Asylpolitik entspricht einer Bankrotterklärung, einem Räumen des Felds. Politik ohne Gestaltungsanspruch und ohne Werte reduziert das eigene Regieren auf das bloße Verwalten. Langfristig marginalisieren die demokratischen Kräfte Europas damit nicht nur die EU, sondern auch sich selbst. 

Jubeln werden die Rechtspopulist*innen: Ohne die Mehrheit im Europäischen Parlament wird nun trotz alledem aus schierer Angst und Paralyse genau die von ihnen eingeforderte Asylpolitik betrieben: Mehr Abschottung, weniger Menschenrecht, weniger Flüchtlinge, mehr Tote.

Dabei wäre die Kapitulation der demokratischen Kräfte vermeidbar gewesen: Rückläufige Asylzahlen führen zu einem Abbau der Fallzahlen in den Ämtern und damit zu einem absehbaren Ende der Überlastung von Verwaltung und Justiz. Ein brummender Arbeitsmarkt in Kontinentaleuropa und ein Aufschwung in den südeuropäischen Ländern schaffen Platz für Integration und einen leistungsfähigen Sozialstaat. Und der Rückzug der USA als Gestaltungsmacht der globalen Außenpolitik bedeutet Raum für die europäische Diplomatie, die Alternativen zu Auslandseinsätzen zum Zweck der globalen Friedenssicherung und -stiftung aufzeigen hätte können.

Ergebnis einer solidarischen EU wäre langfristig Prosperität, ausgleichende Stabilität und internationale Reputation gewesen. All dies hätte zur Identifikation mit der EU beitragen und den Rechten das Wasser abgraben können. Stattdessen aber entschließen sich die demokratischen Kräfte, in die gegensätzliche Richtung zu marschieren. Anstelle von Solidarität treten nun nationale Egoismen. Anstelle von ausgleichender Stabilität tritt nun mehr Volatilität auf den europäischen Märkten, und damit stärkere Zyklen bei Löhnen, Arbeitslosigkeit und Preisen. Und anstelle des internationalen Einsatzes für das Menschenrecht schaut die EU künftig bei Menschenrechtsverletzungen weg. 

Langfristig kann das Projekt EU nur dann Erfolg haben, wenn es die geltende Freizügigkeit mit einer starken Solidargemeinschaft flankiert. Dass die am Gipfel verhandelnden Staats- und Regierungschefs daran in großen Teilen nicht interessiert sind, das ist das eigentliche Ergebnis des Treffens.

 

Die Zollpolitik ist zurück. Schon überwunden geglaubt nach erfolgreichen WTO-Verhandlungsrunden, und dem Traum von freiem, fairem Handel näher als früher, setzt nun wieder eine handelspolitische Eiszeit ein. In Wild-West Manier fuchtelt US-Präsident Trump mit seiner Handelspolitik herum wie mit einer Pistole und schießt blind gegen alles und jeden. Heute mal gegen die EU, China und andere Handelspartner im Streit um Handelsüberschüsse. Zur Zeit setzt er der EU und anderen die Pistole auf die Brust und droht mit Strafzöllen auf Aluminium und Stahl.

Zwischenstand: USA 1, EU 0

Am Dienstag hat Donald Trump die Entscheidung über die Strafzölle auf europäischen, mexikanischen und kanadischen Stahl und Aluminium um vier Wochen auf 1. Juni vertagt. Der US-Präsident ordnete im März 2018 zusätzliche Zölle in Höhe von 25 Prozent auf Stahl und zehn Prozent auf Aluminium an. Grund hierfür sei die nationale Sicherheit. Importe seien existenzbedrohend für die heimische Branche; diese sei aber wegen ihrer Bedeutung für die Streitkräfte und Infrastruktur essenziell für die Sicherheit des Landes. Die Handelsbarrieren sollen die inländische Produktion so stärken, dass die USA weniger abhängig von ebendiesen Importen ist. Vertreter aus Brüssel, Ottawa und Mexiko-Stadt versuchen in Verhandlungen mit Washington einen Kompromiss und eine dauerhafte Ausnahme zu erzielen. Für den Fall, dass die Strafzölle doch noch in Kraft treten, hat die EU bereits Gegenmaßnahmen wie Zölle auf verschiedene US-Güter angekündigt.

Doch wieso wird sofort von einem Handelskrieg gesprochen? Am Beispiel Stahl sieht man die Auswirkungen der Strafzölle auf Europa. Einerseits steigen die Stahlpreise in den USA, da Importe nun mit einer „Steuer“ belegt werden. Stahlproduzent:innen aus dem Rest der Welt können jetzt nicht mehr mit US-amerikanischen Unternehmen auf dem US-Markt konkurrieren, da sie vergleichsweise teuer werden. Es wird weniger Stahl in die USA verkauft und das Angebot dort verknappt sich. Deswegen können inländische Unternehmen nun deutlich höhere Preise verlangen.

Exkurs: Wer sind die Gewinner und Verlierer dieser Handelspolitik in den USA?

 

US-amerikanische Firmen, die diesen Stahl kaufen und weiterverarbeiten, und – in zweiter Konsequenz – auch amerikanische Konsument:innen tragen die höheren Kosten, die durch die Strafzölle entstehen. Stahlproduzent:innen und –arbeiter:innen profitieren hingegen von den höheren Preisen und der geringeren Konkurrenz. „America first“ bedeutet in diesem Fall wohl eher „US-Stahlindustrie first“. Genau deshalb ist die Kritik auch innerhalb der Vereinigten Staaten groß. Gesamtökonomisch betrachtet ist diese Politik nämlich trump’scher Unsinn: Strafzölle, sind ein Schuss, der nach hinten losgeht.  Konsument:innen leiden, Unternehmen, die Stahl als Vorprodukt verwenden, leiden auch und die Zolleinnahmen, die neu generiert werden, können dies nicht wettmachen. Trump, der sich als Beschützer amerikanischer Stahl-Arbeitsplätze inszeniert, vergisst, dass diese nun in anderen Bereichen der Wirtschaft abgebaut werden.

Andererseits können Produzenten aus dem Rest der Welt jetzt weniger exportieren, da sie durch den Zoll künstlich weniger konkurrenzfähig gemacht worden sind. Wenn der Nachfrageeinbruch in den USA sehr groß ist, d.h. wenn die USA zuvor sehr viel Stahl und Aluminium importiert hat, können die Preise auf dem Weltmarkt sogar sinken. Für die europäische Stahlindustrie wäre das sehr negativ.

Neben den Zöllen an sich, ist auch die Art und Weise der eventuellen Einführung problematisch: Firmen versuchen sich natürlich auf die Handelspolitik zu reagieren. So werden sie z.B. weniger in Europa investieren, wenn sich die Gewinnaussichten wegen der Zölle hier verschlechtern. Auch US-Firmen werden sich wegen der erwarteten Verteuerung der Produktionsinputs nach Alternativen umsehen. Da Präsident Trump nun aber die Entscheidung weiter in die Zukunft verlegt hat, können sich Konsument:innen und Firmen noch nicht oder nur unter Spekulationen auf die Veränderungen vorbereiten. Zu Recht kritisiert die EU-Kommission: „Die US-Entscheidung verlängert die Unsicherheit auf den Märkten.“

Zudem darf man nicht einfach nur die ökonomischen Auswirkungen der amerikanischen Zölle heute betrachten, sondern muss auch deren längerfristige Folgen miteinbeziehen. Bereits jetzt hat die EU vor Vergeltungszölle auf US-Importe zu erheben. Ein immer weiter eskalierender Handelskrieg scheint nicht weit.

Aus diesen Gründen versucht die EU, z.B. durch Verhandlungen und US-Besuche von Macron und Merkel, die drohenden Zölle abzuwehren. Bis jetzt nur mit kleinen Erfolgen.

Faktencheck: US-amerikanische und europäische Zölle im Vergleich

 

Doch was steckt hinter den Zolldrohungen? Trump beklagt ein generelles, eklatantes Ungleichgewicht im Warenverkehr mit Europa. Dies misst er am hohen EU-Überschuss im Handel mit den USA: 2017 waren es etwa 120 Milliarden Euro. Zudem wirft der US-Präsident den Europäern vor, deutlich höhere Zölle als die USA zu erheben, z.B. auf Autoimporte. Hat er Recht? Leider ja.

Die EU ist nicht das Paradies für Freihandel, für das sie sich gerne hält, insbesondere im Vergleich mit den USA. Die folgende Tabelle zeigt: Der ungewichtete Durchschnittszoll der EU liegt bei 5,2%, jener der USA bei 3,5%, wie das ifo Institut berichtet. Das bedeutet, dass die EU insgesamt höhere Zölle erhebt als die Vereinigten Staaten. Außerdem verbergen diese Durchschnittswerte hohe Zollspitzen in vielen wichtigen Branchen, wie etwa in der besagten Automobilindustrie. Wenn Präsident Trump also über „massive Zölle“ klagt, hat er zumindest teilweise nicht Unrecht.

Vergleich: Europäische vs. US-Zölle

Der Exportweltmeister Deutschland sollte sich hier vielleicht einmal an die eigene Nase fassen. Lebt die deutsche Wirtschaft und Regierung eine aggressive Exportkultur? Um diese Frage abschließend zu beantworten, könnte man einen zweiten Artikel über europäische Exportsubventionen an die Agrarwirtschaft, die viel zitierten Milchseen und Butterberge, deutsche Lohnzurückhaltungen, und, und, und, schreiben.

Strukturelle Ungleichgewicht im Welthandel hin oder her, Strafzölle sind nicht die richtige Antwort. Ganz im Gegenteil: ein Rückschritt. Sie legen Welthandelsströme und damit die internationale (Wirtschafts-)Zusammenarbeit auf Eis und befeuern nationalistische Ressentiments á la Trump. Seine „America first“-Politik verfolgt ein bestechend einfaches Muster: Finde Schuldige für einen Missstand und tu das, worin Trump am besten ist: diskriminiere sie, mobbe sie, schließe sie aus. 2017 war es unter anderem der sog. „Muslim ban“, der Bürgern aus einigen mehrheitlich muslimischen Staaten die Einreise in die USA verbot; Schuld seien sie am Terror. Heute sind es Handelsprodukte aus dem bösen Europa und China; Grund für den Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand, wie argumentiert wird. Was wird es morgen sein?

Stein für Stein setzt Trump sein Wahlversprechen einer Mauer um. Doch nein, der Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko stockt, weil vom Kongress noch nicht genug Geldmittel freigegeben wurden. Die Mauer, die der US-Präsident viel erfolgreicher baut, ist die Mauer in den Köpfen unserer Gesellschaft. Jedes Mal, wenn Twitter-Trump Tiraden gegen wen auch immer verfasst, wird es ein Stück normaler und gewohnter in seinen Kategorien zu denken: Wir gegen die anderen. Nicht wir alle gemeinsam und solidarisch für eine bessere Welt, sondern halt „America first“. Auch gerne auf Kosten anderer.

Es ist die Ironie unserer Zeit: Noch nie war die Welt so globalisiert, so vernetzt und Entfernungen so nah. Und gleichzeitig scheinen manche Mauern unüberwindbar wie eh und je.

Viel wurde über die europapolitischen Forderungen Emmanuel Macrons gesprochen. Von Seiten der Sozialdemokratie feierte man die Blaupause des französischen Präsidenten als großen Aufbruch, teilsweise gar als Neugründung, für die Europäische Union. Auf der anderen Seite gaben sich konservative und nationalistische Kräfte alle Mühe, die Forderungen des jungen Präsidenten als zeitlich wie politisch deplatzierte Narretei abzutun. Selten jedoch wurde über den Inhalt der Macron’schen Forderungen diskutiert, stattdessen reduzierte man die Debatte auf die Frage „mehr oder weniger Europa?“. Um den Forderungen Macrons, nicht zuletzt aufgrund ihrer Wichtigkeit, mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu begegnen, wollen wir im Folgenden eine kleine Analyse der zentralen Forderungen wagen.

Flagge der EU: Seit 1955 Symbol für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent

Vorweg stellt Macron die Forderung nach einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Nicht jede der von ihm vorgebrachten Reformvorschläge müsse sofort von jedem Mitgliedsstaat übernommen werden. Vielmehr könne die europäische Integration in unterschiedlichen Geschwindigkeiten je Mitgliedsstaat verlaufen. Dies mag auf den ersten Blick verwirren, schließlich kann unterschiedlich intensive Integration der EU-Staaten auch zu mehr Fragilität führen. Blickt man jedoch genauer auf die gegenwärtige Verfassung der EU, so können bereits heute unterschiedliche Grade an Integration gemessen werden. Nichts anderes war die 4+3+3 Regel, die die Personenfreizügigkeit sukzessive etablierte, nichts anderes sind die Maastricht-Kriterien für die EURO-Einführung. Jene unterschiedlichen Geschwindigkeiten machten jedoch den EURO erst möglich, da sie ökonomische Disruption in fragilen Staaten verhinderten, und sie führten nicht zuletzt zur EU-Osterweiterung. Fundament unterschiedlicher Geschwindigkeiten bei der Etablierung von Reformen war jedoch stets die Selbstverständlichkeit des Aufholens: Am Ende des Prozesses steht bzw. stand sowohl bei der EURO-Einführung wie auch bei der Etablierung der Personenfreizügigkeit die Durchsetzung der Reformen. Entsprechend können auch die Macron’schen Reformpläne in ihrer Umsetzung von unterschiedlich schneller Etablierung profitieren, sofern einerseits unterschiedliche Geschwindigkeiten wohl dosiert werden, und andererseits am Ende das gleiche Resultat in allen Staaten garantiert wird.

Inhaltlich stellt Macron auf die Schaffung eines EU-Verteidigungsbudgets sowie einer gemeinsamen, verteidigungspolitischen Strategie ab. Hier bleiben die Vorschläge relativ unkonkret und bergen daher ebenso Chancen wie Risiken. So könnte die Übernahme der französischen Verteidigungsstrategie zu einer deutlich interventionistischeren Verteidigungspolitik und damit letztlich zu einer Ausweitung der Außeneinsätze führen. Andererseits birgt eine gemeinsame Verteidigungspolitik die Chance, langfristig nationale Armeen überflüssig zu machen und damit, neben einem Mehr an wirtschaftlicher Effizienz, einer besseren Abstimmung der Ausrüstung und der Einübung gemeinsamer taktischer Manöver, den europäischen Frieden nachhaltig sichern. In eine ähnliche Richtung stößt auch Macrons Vorschlag eines EU-Katastrophenschutzes, welcher gerade bei Flächenproblemen wie Überflutungen, Bränden oder Reaktorkatastrophen von einer besseren Verzahnung profitieren würde.

Ferner fordert Macron die Schaffung einer EU-Asylbehörde zur Vereinheitlichung von Asylstandards. Damit einher ginge auch die Überarbeitung des Dublin-Abkommens, was die Drittstaatenregelung endlich zu Fall bringen könnte. Andererseits könnte, infolge des nach rechts verschobenen politischen Diskurses, auch ein schärferes Asylrecht und eine Ausweitung der sog. sicheren Herkunftsländer Ergebnis der Vereinheitlichung der Asylstrategien sein. Dennoch ist eine Überarbeitung der europäischen Asylstrategie dringend notwendig, um die flächendeckende Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention einerseits sowie ein solidarisches Schultern der mit Flucht verbundenen, finanziellen Lasten andererseits sicherzustellen. Der von Macron geforderte EU-Personalausweis kann einerseits eine Identifikation der europäischen Bevölkerung als Europäer*innen ermöglichen und wäre daher aus einer symbolpolitischen Perspektive wertvoll. Konsequent wäre dann auch die Einführung eines EU-Führerscheins.

Großes Potential hat die Schaffung eines EU-Einwanderungsgesetzes, die Macron forciert. Gegenwärtig muss für den Erhalt einer Blue Card der EU für die Einreise nach Deutschland beispielsweise ein Jahreseinkommen von rund 50.000 EUR erzielt werden. Entsprechend gering sind die Zahlen an Personen, die im Rahmen einer solchen Blue Card nach Europa einwandern. Zudem reduziert sie die Zuwanderung ausschließlich auf ökonomische Faktoren. Ein EU-Einwanderungsgesetz birgt daher die Chance, Zuwanderung leichter zu ermöglichen und damit die EU zu öffnen.

Die EZB, welche die geldpolitische Kompetenz des Euroraums beherbergt. Künftig würde neben ihr der Euroraum auch eine fiskalische Kompetenz erhalten.

Steuerpolitisch hat es Macrons Vorschlag in sich: So fordert er die Etablierung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, welche insbesondere Hochfrequenzhandel an der Börse sowie kurzfristige Spekulation deutlich teurer und damit unlukrativ machen würde. Ferner sollen im Euroraum Steuern durch ein eigens zu schaffendes Finanzministerium erhoben werden können. Entsprechend würde die Eurozone neben ihrer geldpolitischen Kompetenz auch eine fiskalische Kompetenz erhalten. Dieser logische Schritt ist längst überfällig, wird jedoch seit Jahren aufgrund nationaler Egoismen, im Besonderen aus Deutschland, ausgebremst. Schlussendlich würde ein EU-eigener Haushalt auch die die Möglichkeit mit sich bringen, gezielt antizyklische Fiskalpolitik in den Mitgliedsstaaten zu machen und damit die aggregierten Kosten für Wirtschaftskrisen und -abschwünge reduzieren.
Ferner schlägt Macron die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung vor. Damit würde dem EU-internen Buhlen um Unternehmensstandorte durch nationale Steuerreduktion sowie der Schaffung von Ausnahmen endlich ein Ende gesetzt. Allerdings muss zwingend die Garantie von ausreichender Kontrolle durch entsprechende Steuerfahnder*innen gegeben werden können, da sonst die Harmonisierung von Steuern alleine ein stumpfes Schwert bleibt.

Schlussendlich sei noch die Sozialpolitik genannt, in der Macron europäische Mindeststandards festlegen will. Solche würden als Fangtuch unterhalb der nationalen Sicherungsmechanismen fungieren und ein Mindestmaß an sozialer Sicherung garantieren. Insbesondere in Osteuropa ergäbe sich daraus die Chance der Etablierung wirklicher Sicherungssysteme, die deutlich armutsfester wären als die bestehenden Mechanismen.

Zusammenfassend spricht Macron mit seinen europapolitischen Reformvorschlägen zentrale Themen an, wird aber in eigen Themengebieten wenig konkret. Dennoch ist der frische Wind aus Frankreich ein willkommenes und nötiges Signal für mehr europäische Integration, einem Feld das man in letzter Zeit nur zu häufig den rechten Stimmen überlies, die sich für mehr Kleinstaaterei stark machen. Macron zeigt, dass ein gemeinsames Voranschreiten in Europa zu deutlichen Vorteilen, beispielsweise in der Unternehmensbesteuerung, führen kann, und spricht daher wichtige Punkte an, die im Diskurs um die Zukunft der EU zuletzt nur selten Erwähnung fanden. Die deutsche Politik wäre also gut beraten, sich mit der französischen zusammen zu tun, um sich gemeinsam für eine Renaissance des größten, wichtigsten und erfolgreichsten Projekts des Kontinents der Nachkriegszeit einzusetzen.

Was haben Windräder, Schiffscontainer und Immobilien gemeinsam? Ganz einfach: Alle drei wurden als Anlageformen genutzt – und alle drei endeten in finanziellen Desastern für tausende Kapitalanleger*innen in ganz Deutschland. Prokon beispielsweise, ein Unternehmen das jahrelang Geld einsammelte mit dem Versprechen, eine ökologische und sichere Alternative zu herkömmlichen Finanzprodukten zu bieten, hat Anleger*innen 42% ihres Geldes gekostet.. Die P&R-Gruppe, ein Münchner Finanzdienstleister, hatte in Schiffscontainern das scheinbar perfekte Produkt gefunden. Sie verkaufte sie und mietete sie zu festen Preisen zurück – die Anleger*innen erhielten regelmäßige Mieten und die Container wurden nach Ende der Laufzeit vom Unternehmen zurückerworben. Ein System, das nicht mehr funktionierte, weil der Markt für Container seit Jahren schwächelt und die Mietzahlungen die Einnahmen übertreffen. Insgesamt sind rund 51.000 Anleger*innen betroffen, das Insolvenzverfahren läuft seit dem 15. März diesen Jahres – der Ausgang ist ungewiss. Das Ende der S&K Immobilien hingegen ist mittlerweile bekannt: beide Gründer wurden wegen Untreue zu mehreren Jahren Haft verurteilt, der Schaden beträgt rund 240 Millionen Euro. Sie seien „zu gierig“ und „berauscht von vermeintlicher Genialität“ gewesen – ihre Anleger*innen glaubten ihnen die Versprechen von sicheren Anlagen mit Top-Renditen.

Gleichzeitig und scheinbar vollkommen unabhängig von solchen Geschehnissen, bei der rücksichtslose Unternehmen auf offensichtlich renditehungrige private Geldanleger*innen treffen, ist das Anlageverhalten der Deutschen so langweilig wie selten zuvor. Wobei – eines Teils der Deutschen. Denn die Vermögensungleichheit ist bedeutend höher als im restlichen Euroraum, entsprechend sind große Teile der Bevölkerung vom Thema Geldanlage vollkommen ausgeschlossen. Rund 30% besitzen keinerlei nennenswertes Nettovermögen1, besonders unter der Gruppe der Alleinerziehenden ist die Situation besonders prekär: Fast 25% weisen ein negatives Nettovermögen auf, sind also überschuldet2. Immobilienbesitz, oftmals Hauptbestandteil des Vermögens, bleibt finanziell schwächer gestellten Personen zumeist verwehrt: während die nach Nettovermögen reichsten 10% mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (91% der befragten Haushalte) ihren Hauptwohnsitz auch selbst besitzen, gilt dies für die ärmsten 20% nur in Ausnahmefällen (6%).Auch der Aufbau von Finanzvermögen, sprich Aktien, Anleihen oder Ansprüchen gegenüber Lebensversicherungen, bleibt in erster Linie den vermögenderen Schichten, vor allem aber natürlich den reichsten 10%, vorbehalten. Insbesondere der Aktienbesitz ist weiterhin fest in der Hand der Vermögenden und Einkommensstarken: während nur rund 10% der Haushalte insgesamt angaben, direkt Aktien zu besitzen, waren es unter den vermögendsten 20% fast ein Drittel.4

Generell aber lässt sich das Anlageverhalten der Deutschen als konservativ beschreiben. Trotz Ausnahmen, wie den eingangs erwähnten Geldanlagen am grauen Kapitalmarkt, der*die deutsche Anleger*in mag es sicher und möglichst liquide. Abgesehen von Immobilien liegt ein großer Teil des Kapitals auf Giro- und Sparkonten, zurzeit größtenteils zum Nullzins, in Versicherungsprodukten, und nur zum kleinen Teil in den riskanteren Anlageklassen, wie Aktien und Anleihen. Alles in allem ein trockener Mix, der gerade in der aktuellen Phase kaum Rendite bietet und damit auch kaum den eigentlichen Zweck erfüllt, nämlich Vermögensaufbau.

Das Geldvermögen im Land steigt zwar Jahr für Jahr, allerdings profitieren nur wenige. Natürlich ist es im Kapitalismus logisch, dass gerade diejenigen, welche sowieso bereits viel Geld erhalten oder besitzen, es leichter haben, Vermögen aufzubauen. Zusätzlich werden Personen mit niedrigem Einkommen in Deutschland sehr stark durch Konsumsteuern belastet – und nebenbei steigen die Mieten in weiten Teilen des Landes quasi unaufhörlich, mancherorts in schwindelerregende Höhen. Niedrige Löhne, die mittlerweile einen nicht unbedeutenden Teil der Beschäftigungsverhältnisse prägen, verhindern, dass Menschen sich ihr eigenes Haus leisten und sich für die Zukunft finanziell absichern können, schlichtweg also ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Deutschland ist kein gerechtes Land, es weigert sich, seine Reichen in die Pflicht zu nehmen und noch mehr weigert es sich, seine Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen – aus Angst vor dem meistens angedrohten „Arbeitsplatzabbau“, der gefälligst immer daraus zu resultieren hat. Was also tun? Nun, Parteien mit sozialem Profil wählen wäre ein erster Schritt, noch einen Schritt weiter ginge es, die finanzielle Bildung in der Bevölkerung zu verbessern – was diese sogar gut finden würde. So gaben fast 80% der Befragten einer Studie im Auftrag der ING Group an, finanzielle Bildung solle in der Schule erfolgen.5 Ins gleiche Horn stoßt eine Umfrage im Auftrag von Union Investment. Hier sieht eine absolute Mehrheit der Befragten Finanzbildung als relevantesten Bildungsbereich.6 Insbesondere die Themenbereiche Versicherungen, Altersvorsorge und Geldanlage mit Aktien oder Fonds sind den Befragten besonders wichtig. Insgesamt zeigt sich also, es besteht Nachholbedarf was die Kenntnisse über wirtschaftliche und betriebliche Zusammenhänge betrifft und auf die Fragen, wie man sich denn absichern kann gegen die Gefahren des Lebens. Nun sind zwei von Banken in Auftrag gegebene Studien nicht unbedingt vollkommen neutral – für die Finanzinstitute wäre es sicherlich von Vorteil, würden sich mehr Personen aktiv um ihre Finanzen kümmern und damit wohl auch mehr Dienstleistungen von Banken in Anspruch nehmen. Im Kern aber ist die geäußerte Kritik berechtigt: in deutschen Schulen wird nur unzureichend aufgeklärt über „die Wirtschaft“, über den Umgang mit Geld, über die Märkte und die Art, wie sie funktionieren, oder eben in Ausnahmefällen nicht. Das Wissen, warum denn manche Personen mehr Geld erhalten als andere (kleiner Tipp: es liegt nicht am Arbeitsaufwand), verhindert leider aber noch nicht, dass die Situation bestehen bleibt. Veränderungen muss man herbeiführen, sei es durch Gesetzesänderungen, sei es durch faktische Durchsetzung. Die IG Metall beispielsweise hat in der kürzlich abgeschlossenen Tarifrunde einmal mehr bewiesen, was eine Gewerkschaft mit genügend Rückendeckung durch Arbeitnehmer*innen erreichen kann.

Um zu verhindern, dass Unternehmen einerseits Dividenden in Millionenhöhe ausschütten, gleichzeitig aber stellenweise nicht einmal bereit sind, Tariflöhne zu bezahlen, braucht es nicht nur eine Politik, die willens dazu ist – es braucht in erster Linie eine Bevölkerung, die den Wunsch danach verspürt, die bereit ist, diesen umzusetzen und im Zweifel zu erzwingen. Und es gilt nicht nur, das Bewusstsein zu schaffen für nicht hinnehmbare Ungerechtigkeiten, es gilt auch, diese verständlich zu machen.

Insofern ist die Zeit gekommen, für wirklich nachhaltige Anstrengungen in der finanziellen Bildung. Nicht aus Gründen des Lobbyismus, nicht weil es gilt, Banken und Versicherungen das Geschäft zu erleichtern und den Menschen einzureden, jedes Finanzprodukt sei notwendig und gut. Nein, sondern um aufzuklären über die Mechanismen, die für jene Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten sorgen, welche leider zu oft aus dem Fokus des öffentlichen Diskurses geraten. Aufzuklären, warum Vorstände von DAX-Unternehmen teils zweistellige Millionengehälter erhalten, während gleichzeitig Arbeitsplätze abgebaut werden. Aufzuklären, wie es möglich ist, dass reiche Privatpersonen ihre Vermögen mithilfe von Briefkastenfirmen und Scheinverträgen in Steueroasen verschieben. Die aktuelle Situation, in der in erster Linie dem Willen und den Wünschen des Kapitals gefolgt wird, ist keine, welche sich nicht ändern lässt, sie ist nicht in Stein gemeißelt. Ohne den klaren Blick auf die Gegebenheiten, ohne das Wissen und die Möglichkeit, diese zu bewerten und für gut oder schlecht zu befinden, wird es im Kapitalismus nur einen Sieger geben. Oder, um es mit den Worten von ausgerechnet Warren Buffet, einem der bekanntesten Kapitalisten überhaupt, zu sagen: „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“7

Lassen wir nicht zu, dass diese Aussage ihre Richtigkeit behält.

2Ebenda, Seite 44

4Ebenda, Seite 72

Mittlerweile hat man sich ja daran gewöhnt: Der Rat der Wirtschaftsweisen stellt, wie jedes Jahr, die deutsche Regelarbeitszeit infrage und schlägt – wie könnte es verwundern – eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit mit der üblichen Flexibilitätsbegründung vor. Zwar liebäugelt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dem man vermutlich weniger aufgrund seiner Weisheit und mehr wegen der Sperrigkeit seiner eigentlichen Bezeichnung irgendwann den Namen „die Wirtschaftsweisen“ zugestanden hat, schon lange mit dieser Idee, jedoch steigt die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitszeitausdehnung mangels linker Regierungsbeteiligung bei Jamaika doch sehr.

Dabei ist die Streckung der Regelarbeitszeit keine selbstverständliche Antwort auf die Wirtschaftsentwicklung im 21. Jahrhundert. Dass es auch genau anders herum funktionieren kann zeigt Schweden seit Jahren, welches in einem Feldexperiment die Arbeitszeit einiger Branchen und Betriebe auf 6 Stunden am Tag reduzierte. Dass das schwedische Experiment mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Gesundheits- und Sozialsektor bald zur dauerhaften Regelung werden wird zeigt den Erfolg des Projekts auf. Insofern lohnt ein näherer Blick auf den Arbeitsmarkt in Schweden, bevor die Arbeitszeitverlängerung zur Selbstverständlichkeit erklärt wird.

Wenn Christoph Schmid, als Vorsitzender des Sachverständigenrats, mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit einfordert, dann tut er dies mit Blick auf die hohe Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitskräften und den immer kleiner werdenden Pool an Personen, die dafür zur Verfügung stehen. Die logische Konsequenz ist die Streckung der Arbeitszeit für die Beschäftigten, sofern man den Bedarf der Wirtschaft decken möchte – und das will man, alles andere könnte den Aufschwung ausbremsen. Dabei führt eine Stunde mehr Arbeitszeit jedoch nicht zu einem linearen Anstieg der Produktion. Infolge von Ermüdung und Monotonität reduziert sich die Stundenproduktivität, sodass der tatsächlich produzierte Output einer zusätzlichen Arbeitsstunde eher gering ausfallen dürfte. Es ist fraglich, ob die zusätzliche Stunde nicht nahezu gänzlich in arbeitsfremde Beschäftigungen, wie einen Plausch mit den Kolleg*innen oder das Buchen des Sommerurlaubs am Dienst-PC investiert wird, oder in den Werkstätten schlicht zur Verlangsamung der Arbeit führt. Höhere Krankenstände infolge der geringeren Regenerationszeiten könnten dann den zusätzlichen Produktionsvorteil aufzehren und langfristig gar negative Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaftsleistung haben.
Der Effekt liegt nahe, blickt man nach Schweden: Dort führte die Senkung der Arbeitszeit dazu, dass in Krankenhäusern um ein Sechstel mehr Personal eingestellt wurde. Gleichzeitig konnten teilweise ein Fünftel mehr Patient*innen in der gleichen Zeit bedient werden. Der Produktivitätszuwachs ist dort spürbar: Geringere Wartezeiten für Patient*innen, weniger Krankmeldungen der Belegschaft, bessere Wirtschaftszahlen für die Kliniken.

Die Unsicherheit hinsichtlich der absoluten Erhöhung der Produktion durch die Ausdehnung der Arbeitszeit ist jedoch nicht der einzig fragwürdige Punkt an der geforderten Reform. Vielmehr könnte sich der deutsche Vorstoß zum gravierenden Nachteil für die gesamte Volkswirtschaft entwickeln. Blickt man nämlich näher auf den Arbeitsmarkt, so fällt auf, dass gerade im Gesundheits- und Pflegesektor ein exorbitant hoher Bedarf an Arbeit besteht. Gleichzeitig führt die Branche, infolge des hohen Drucks, der vielen Überstunden und der mäßigen Bezahlung, die Liste der unattraktiven Ausbildungs- und Arbeitsplätze regelmäßig an. Würde man nun die Arbeitszeit erhöhen und damit die Bedingungen im Gesundheits- und Pflegesektor weiter verschlechtern, so kann eine Flucht der Beschäftigten in andere Jobs einerseits sowie in das europäische Ausland andererseits erwartet werden. Nach Schweden beispielsweise, wo die Senkung der Arbeitszeit eine Maßnahme war, um im Gesundheitssektor Arbeitskräfte zu finden – mit Erfolg, wie man heute weiß. Gleichzeitig würden andere Branchen in Deutschland, insbesondere jene mit hoher Gewerkschaftsbindung, insbesondere also die Industrie, nicht erfasst. Hier sind Tarifverträge mit vereinbarten Wochenarbeitszeiten weit unterhalb der gesetzlichen 40-Stunden-Woche die Regel.

Es gibt noch eine Vielzahl anderer Gründe, weshalb man in Deutschland eher über ein schwedisches Modell nachdenken sollte. So führt die Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich nach dem schwedischen Vorbild gerade im Gesundheitssektor zum Anziehen der Löhne – einer Branche, in der überwiegend Frauen beschäftigt sind. Im männerdominierten Industriesektor hingegen dürften die Auswirkungen weit geringer sein. In der Konsequenz steigt der Stundenlohn der Frauen stärker an, was zum Schließen des Gender Pay Gaps, also des Lohnunterschieds zwischen Männern und Frauen, beitragen würde. Auch dürfte die Entlastung der Krankenhäuser zu weniger Fehlern bei der Behandlung führen, sodass sich nicht nur positive Folgen für die Gesundheit der Beschäftigten, sondern auch für jene der Patient*innen ergeben würden.

Insgesamt wäre Deutschland gut beraten, bei der Frage nach der Ausgestaltung der Arbeitszeit stärker auf die Belange der Beschäftigten und weniger auf die des Sachverständigenrats zu hören. Erstere sind von der Veränderung der Arbeitszeit schließlich betroffen.