Nord Stream 2 – Nichts Neues in der Ostsee
Die deutsche Bundesregierung verhält sich in den letzten Tagen und Wochen beinahe schizophren. Auf der einen Seite solidarisieren sich völlig zurecht viele deutsche Politiker*innen mit dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, fordern dessen Freilassung und kritisieren den Kreml dafür scharf. Auf der anderen Seite betreiben unzählige Minister*innen, Ministerpräsident*innen und nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel enorme Lobbyarbeit für die angebliche „fast letzte Brücke zu Russland“ (Zitat von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 06.02.2021). Die Rede ist von der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2.
Die Fertigstellung dieser Erdgas-Pipeline wäre „energiewirtschaftlich unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel“, so Claudia Kemfert, eine Autorin für eine Studie des DIW aus dem Jahr 2018, welche sich genau mit diesem Thema beschäftigte. Die Kritik an diesem Projekt bestand also schon seit einigen Jahren, flammte jedoch seit der Verhaftung Nawalnys erneut auf.
Doch was ist Nord Stream 2 eigentlich genau?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zeitlich etwas zurückgehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war es für deutsche Energieunternehmen lukrativ in russische Erdgaswirtschaft zu investieren. So fusionierten beispielsweise 2002 die Energiekonzerne E.ON und Ruhrgas unter dem Vorwand, die deutsche Energieversorgung mit Erdgas aus Russland zu sichern. Obwohl damals Monopolvorwürfe laut wurden, kam es zu einer Genehmigung dieser Fusion. Sehr zur Freude russischer Erdgasunternehmen, welche nun eine Chance sahen, neue Märkte in Westeuropa zu erschließen.
Anfangs versuchte Russland sein Erdgas hauptsächlich über die Ukraine an die westeuropäischen Abnehmer*innen zu exportieren. Jedoch wurde die Transportroute über die Ukraine wegen vermehrter politischer Konflikte immer schwieriger für die staatlichen Gaskonzerne Russlands. So versuchte die russische Regierung Alternativen zur Transitroute über die Ukraine zu finden. Im Jahr 2011 wurde schließlich die Gaspipeline Nord Stream 1 eröffnet, welche das Erdgas vom russischen Wyborg, nahe der Stadt Sankt Petersburg über die Ostsee bis nach Lubmin, im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern transportierte.
Doch wenn man nun einen Blick auch auf die „jüngere Schwester“ Nord Stream 2 wirft, wird klar, dass Russland mit diesen Projekten ganz klar Geopolitik betreibt. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 und seit dem Krieg im Donbass bemüht sich der Kreml zunehmend um eine Diversifizierung seiner Erdgas-Exportrouten. Eine davon ist Nord Stream 2, welche ebenfalls wie Nord Stream 1 Erdgas von der Region Sankt Petersburg nach Mecklenburg-Vorpommern und von dort in verschiedene europäische Staaten transportieren soll.
Dieses Projekt ist umstritten und das völlig zurecht.
Der erste Kritikpunkt betrifft die Außenpolitik Deutschlands und weiterer europäischer Länder: Nach Außen hin wird Nord Stream 2 als europäisch-russisches Energieprojekt auf Augenhöhe dargestellt. Doch diese Darstellung entspricht mit Nichten der Realität. Zwar waren zu Beginn europäische Energieunternehmen (Deutschland mit Uniper und Wintershall, Österreich mit OMV, Frankreich mit Engie und das britisch-niederländische Unternehmen Royal Dutch Shell) gemeinsam mit Gazprom an der Nord Stream 2 AG beteiligt, jedoch besaß der russische Staatskonzern schon seit Gründung im Jahr 2015 den größten Anteil an der Aktiengesellschaft. Ein Jahr später zogen sich die europäischen Unternehmen vollständig aus der Nord Stream 2 AG zurück und überließen so Russland die alleinigen Anteilsrechte.
Altkanzler Gerhard Schröder wurde zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Nord Stream 2 AG ernannt und betrieb bereits damals enorme Lobbyarbeit für die Umsetzung des Projekts. Durch das bisweilen rücksichtslose Vorgehen Gazproms und von Vertreter*innen Russlands zeigte sich schnell, dass Russland mit Nord Stream 2 mehr als nur wirtschaftliche Interessen verfolgt. Bei einer Fertigstellung und Inbetriebnahme der Gaspipeline könnte sich Europa noch abhängiger von russischen Gasexporten machen und wäre somit bei Konflikten, wie in der Ukraine, leichter von Russland erpressbar. Die russische Regierung könnte womöglich eine Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen der EU fordern und damit weiterhin ihre Macht demonstrieren. Kritik am Kreml, wie in der Causa Nawalny, würde vielleicht in Zukunft nicht mehr so einfach werden. Deutschland und seine europäischen Partner*innen sollten deshalb die Stärke besitzen, die Fertigstellung von Nord Stream 2 zu verhindern und nicht mit einem Regime, welches Menschenrechte und demokratische Partizipation mit Füßen tritt, zusammenarbeiten.
Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens. Macht es wenigstens aus ökonomischen Gesichtspunkten Sinn, eine weitere Erdgas-Pipeline in der Ostsee zu bauen?
Keineswegs. Eines der Ziele der Projektgesellschaft um Nord Stream 2 ist die nachhaltige Stärkung der europäischen Energiesicherung. Dies würde somit einen Nachfrageüberhang europäischer Staaten nach Erdgas voraussetzen. Tatsächlich wurde jedoch eine sinkende Nachfrage Deutschlands nach Erdgas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten berechnet. In Zukunft wird fossiles Erdgas generell nur noch eine untergeordnete Rolle in der deutschen Energieversorgung spielen. Gründe dafür sind vor allem die langfristig niedrigen Strompreise, hohe Überkapazitäten in der konventionellen Energieproduktion und Fortschritte im Bereich der regenerativen Energien. Somit zeigt sich deutlich, dass es derzeit und auch in den kommenden Jahrzehnten keinen Bedarf für zusätzliche Erdgasimporte geben wird.
Doch wie sieht es mit den Kosten und Erlösen aus?
Ebenfalls nicht gut. Die Baukosten von insgesamt 9,5 Milliarden Euro werden zur Hälfte von Russland, zur anderen Hälfte von den europäischen Teilnehmerstaaten getragen. Insgesamt werden die Kosten für Nord Stream 2 mit 17 Milliarden US-Dollar angegeben, die kalkulierte Ersparnis für die Umgehung der Ukraine wurde nur mit 700 Millionen US-Dollar angegeben. Da sich aber, wie oben bereits erläutert, der Absatz an Erdgas in Europa nicht erhöhen wird, sondern sogar verringern wird, wird jährlich mit Verlusten in Milliardenhöhe gerechnet. Zusätzliche Gasleitungen in Deutschland, welche für die Fertigstellung von Nord Stream 2 benötigt werden, kosten noch einmal etwa 500 Millionen Euro, welche auf die Verbraucher*innen umgelegt werden sollen.
Mögliche weitere ökonomische Konsequenzen, welche aktuell noch nicht kalkuliert werden können, sind beispielsweise Wirtschaftssanktionen der USA gegen europäische Staaten. Sowohl die damalige Trump-Administration als auch die aktuelle Regierung unter Präsident Joe Biden stehen dem Vorhaben ablehnend gegenüber. Sanktionsdrohungen der USA führten bisweilen schon zum Ausstieg einiger Firmen aus Nord Stream 2 und gefährden möglicherweise die Fertigstellung des Projekts auf den letzten, fehlenden Kilometern. So belegte die ehemalige Regierung unter Donald Trump noch am 25.01.2021 das russische Unternehmen KVT-RUS mit Sanktionen und erklärte das Verlegeschiff „Fortuna“ zu „blockiertem Eigentum“. Doch auch unter Präsident Biden sind weitere Maßnahmen gegen russische und auch europäische Unternehmen nicht völlig ausgeschlossen. Der Standpunkt der neuen US-Regierung bleibt der gleiche wie unter Trump. Die deutsche Bundesregierung bemühte sich währenddessen schon um „Einigungsversuche“ mit den Vereinigten Staaten.
Es steht also völlig außer Frage, dass dieses Projekt ökonomisch gänzlich unrentabel ist.
Doch auch aus ökologischen Gründen kann und muss Nord Stream 2 kritisiert werden.
Im Jahr 2020 hat das Institut für Volkswirtschaftslehre und Recht an der Technischen Universität Berlin ein Rechtsgutachten über die Umweltverträglichkeit einer weiteren Gaspipeline in der Ostsee und aller damit einhergehenden Konsequenzen erarbeitet. Das Resultat des Gutachtens war alarmierend. So gebe es „erhebliche Hinweise darauf […], dass die Methanemissionen der Gasförderung in Europa und Russland tatsächlich höher sind, als bislang angenommen bzw. von den Vorhabenträger[*innen] angegeben.“ (Zitat von der Umwelt-Rechtsanwältin Cornelia Ziehm aus der „WirtschaftsWoche“ vom 05.03.2020).
Laut der Deutschen Umwelthilfe muss der Einfluss von Erdgas auf das Klima noch genauer erforscht werden. Des Weiteren muss geklärt werden, unter welchen ökologischen Standards das Erdgas gefördert werden kann, wie es verarbeitet und transportiert werden kann. Die Verbrennung von Erdgas an sich ist weitgehend umweltschonend, jedoch wird beim Abbau des fossilen Gases Methan freigesetzt. Dies ist dahingehend problematisch, weil Methan ein weitaus klimaschädlicheres Gas als Kohlenstoffdioxid ist. Die Auswirkung von Methan auf unser Klima ist in etwa 84-mal stärker als das bei Kohlenstoffdioxid der Fall ist, bei einer Betrachtung über einen Zeitraum von 20 Jahren. Laut Aussagen der Nord Stream 2 AG werden alle anerkannten Standards sowohl bei der Förderung als auch beim Transport umgesetzt. Dies wird allerdings von der Deutschen Umwelthilfe stark angezweifelt, weshalb weitere Überprüfungen durchgeführt werden sollen, welche das Projekt verzögern würden. Die an Nord Stream 2 beteiligten Unternehmen sehen keinen Grund für weitere Überprüfungsmaßnahmen und verweisen stattdessen auf die Genehmigungen diverser Behörden, wie durch das Bergamt Stralsund für die Anladestation und das deutsche Küstenmeer.
Die deutsche Regierung sollte jegliche Beteiligung an Nord Stream 2 einstellen, denn Deutschland gefährdet dadurch seine eigene Energiewende und seine Klimaziele, setzt mutwillig die Souveränität der Ukraine und weiterer Staaten aufs Spiel, investiert Unmengen an Geld in ein nicht zukunftsfähiges, unrentables und unwirtschaftliches Vorhaben und zieht sich selbst blindlings in eine geopolitische Katastrophe ungeahnten Ausmaßes hinein. Die Bundesregierung wäre besser beraten, wenn dieses Geld dort eingesetzt werden würde, wo es aktuell so dringend gebraucht wird: Im Bildungssystem, für erneuerbare Energie, für Klimaforschung, für die Mobilitätswende und in unser Gesundheitswesen.