Frischer Wind aus Frankreich: Eine Analyse der europapolitischen Visionen Emmanuel Macrons
Viel wurde über die europapolitischen Forderungen Emmanuel Macrons gesprochen. Von Seiten der Sozialdemokratie feierte man die Blaupause des französischen Präsidenten als großen Aufbruch, teilsweise gar als Neugründung, für die Europäische Union. Auf der anderen Seite gaben sich konservative und nationalistische Kräfte alle Mühe, die Forderungen des jungen Präsidenten als zeitlich wie politisch deplatzierte Narretei abzutun. Selten jedoch wurde über den Inhalt der Macron’schen Forderungen diskutiert, stattdessen reduzierte man die Debatte auf die Frage „mehr oder weniger Europa?“. Um den Forderungen Macrons, nicht zuletzt aufgrund ihrer Wichtigkeit, mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu begegnen, wollen wir im Folgenden eine kleine Analyse der zentralen Forderungen wagen.
Vorweg stellt Macron die Forderung nach einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Nicht jede der von ihm vorgebrachten Reformvorschläge müsse sofort von jedem Mitgliedsstaat übernommen werden. Vielmehr könne die europäische Integration in unterschiedlichen Geschwindigkeiten je Mitgliedsstaat verlaufen. Dies mag auf den ersten Blick verwirren, schließlich kann unterschiedlich intensive Integration der EU-Staaten auch zu mehr Fragilität führen. Blickt man jedoch genauer auf die gegenwärtige Verfassung der EU, so können bereits heute unterschiedliche Grade an Integration gemessen werden. Nichts anderes war die 4+3+3 Regel, die die Personenfreizügigkeit sukzessive etablierte, nichts anderes sind die Maastricht-Kriterien für die EURO-Einführung. Jene unterschiedlichen Geschwindigkeiten machten jedoch den EURO erst möglich, da sie ökonomische Disruption in fragilen Staaten verhinderten, und sie führten nicht zuletzt zur EU-Osterweiterung. Fundament unterschiedlicher Geschwindigkeiten bei der Etablierung von Reformen war jedoch stets die Selbstverständlichkeit des Aufholens: Am Ende des Prozesses steht bzw. stand sowohl bei der EURO-Einführung wie auch bei der Etablierung der Personenfreizügigkeit die Durchsetzung der Reformen. Entsprechend können auch die Macron’schen Reformpläne in ihrer Umsetzung von unterschiedlich schneller Etablierung profitieren, sofern einerseits unterschiedliche Geschwindigkeiten wohl dosiert werden, und andererseits am Ende das gleiche Resultat in allen Staaten garantiert wird.
Inhaltlich stellt Macron auf die Schaffung eines EU-Verteidigungsbudgets sowie einer gemeinsamen, verteidigungspolitischen Strategie ab. Hier bleiben die Vorschläge relativ unkonkret und bergen daher ebenso Chancen wie Risiken. So könnte die Übernahme der französischen Verteidigungsstrategie zu einer deutlich interventionistischeren Verteidigungspolitik und damit letztlich zu einer Ausweitung der Außeneinsätze führen. Andererseits birgt eine gemeinsame Verteidigungspolitik die Chance, langfristig nationale Armeen überflüssig zu machen und damit, neben einem Mehr an wirtschaftlicher Effizienz, einer besseren Abstimmung der Ausrüstung und der Einübung gemeinsamer taktischer Manöver, den europäischen Frieden nachhaltig sichern. In eine ähnliche Richtung stößt auch Macrons Vorschlag eines EU-Katastrophenschutzes, welcher gerade bei Flächenproblemen wie Überflutungen, Bränden oder Reaktorkatastrophen von einer besseren Verzahnung profitieren würde.
Ferner fordert Macron die Schaffung einer EU-Asylbehörde zur Vereinheitlichung von Asylstandards. Damit einher ginge auch die Überarbeitung des Dublin-Abkommens, was die Drittstaatenregelung endlich zu Fall bringen könnte. Andererseits könnte, infolge des nach rechts verschobenen politischen Diskurses, auch ein schärferes Asylrecht und eine Ausweitung der sog. sicheren Herkunftsländer Ergebnis der Vereinheitlichung der Asylstrategien sein. Dennoch ist eine Überarbeitung der europäischen Asylstrategie dringend notwendig, um die flächendeckende Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention einerseits sowie ein solidarisches Schultern der mit Flucht verbundenen, finanziellen Lasten andererseits sicherzustellen. Der von Macron geforderte EU-Personalausweis kann einerseits eine Identifikation der europäischen Bevölkerung als Europäer*innen ermöglichen und wäre daher aus einer symbolpolitischen Perspektive wertvoll. Konsequent wäre dann auch die Einführung eines EU-Führerscheins.
Großes Potential hat die Schaffung eines EU-Einwanderungsgesetzes, die Macron forciert. Gegenwärtig muss für den Erhalt einer Blue Card der EU für die Einreise nach Deutschland beispielsweise ein Jahreseinkommen von rund 50.000 EUR erzielt werden. Entsprechend gering sind die Zahlen an Personen, die im Rahmen einer solchen Blue Card nach Europa einwandern. Zudem reduziert sie die Zuwanderung ausschließlich auf ökonomische Faktoren. Ein EU-Einwanderungsgesetz birgt daher die Chance, Zuwanderung leichter zu ermöglichen und damit die EU zu öffnen.
Steuerpolitisch hat es Macrons Vorschlag in sich: So fordert er die Etablierung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, welche insbesondere Hochfrequenzhandel an der Börse sowie kurzfristige Spekulation deutlich teurer und damit unlukrativ machen würde. Ferner sollen im Euroraum Steuern durch ein eigens zu schaffendes Finanzministerium erhoben werden können. Entsprechend würde die Eurozone neben ihrer geldpolitischen Kompetenz auch eine fiskalische Kompetenz erhalten. Dieser logische Schritt ist längst überfällig, wird jedoch seit Jahren aufgrund nationaler Egoismen, im Besonderen aus Deutschland, ausgebremst. Schlussendlich würde ein EU-eigener Haushalt auch die die Möglichkeit mit sich bringen, gezielt antizyklische Fiskalpolitik in den Mitgliedsstaaten zu machen und damit die aggregierten Kosten für Wirtschaftskrisen und -abschwünge reduzieren.
Ferner schlägt Macron die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung vor. Damit würde dem EU-internen Buhlen um Unternehmensstandorte durch nationale Steuerreduktion sowie der Schaffung von Ausnahmen endlich ein Ende gesetzt. Allerdings muss zwingend die Garantie von ausreichender Kontrolle durch entsprechende Steuerfahnder*innen gegeben werden können, da sonst die Harmonisierung von Steuern alleine ein stumpfes Schwert bleibt.
Schlussendlich sei noch die Sozialpolitik genannt, in der Macron europäische Mindeststandards festlegen will. Solche würden als Fangtuch unterhalb der nationalen Sicherungsmechanismen fungieren und ein Mindestmaß an sozialer Sicherung garantieren. Insbesondere in Osteuropa ergäbe sich daraus die Chance der Etablierung wirklicher Sicherungssysteme, die deutlich armutsfester wären als die bestehenden Mechanismen.
Zusammenfassend spricht Macron mit seinen europapolitischen Reformvorschlägen zentrale Themen an, wird aber in eigen Themengebieten wenig konkret. Dennoch ist der frische Wind aus Frankreich ein willkommenes und nötiges Signal für mehr europäische Integration, einem Feld das man in letzter Zeit nur zu häufig den rechten Stimmen überlies, die sich für mehr Kleinstaaterei stark machen. Macron zeigt, dass ein gemeinsames Voranschreiten in Europa zu deutlichen Vorteilen, beispielsweise in der Unternehmensbesteuerung, führen kann, und spricht daher wichtige Punkte an, die im Diskurs um die Zukunft der EU zuletzt nur selten Erwähnung fanden. Die deutsche Politik wäre also gut beraten, sich mit der französischen zusammen zu tun, um sich gemeinsam für eine Renaissance des größten, wichtigsten und erfolgreichsten Projekts des Kontinents der Nachkriegszeit einzusetzen.