Blickt man in die Medien, sowohl in die Printausgaben der Zeitungen, als auch in die immer wichtiger werdenden Online-Zugänge, sowie auch in die Kommentarspalten der sozialen Netzwerke – es könnte der Eindruck entstehen, der Juso-Vorsitzende habe die sofortige Zerschlagung aller Unternehmen gefordert und die Sozialistische Sowjetrepublik Deutschland ausgerufen.

Auch wenn dieser Eindruck von so mancher, teils sogar von einstmals als seriös wahrgenommener Seite bestärkt wird, er könnte falscher nicht sein. Die Debatte, die Kevin Kühnert angestoßen hat, ist längst überfällig und sie muss dieses Land bis ins Mark erschüttern: jeder Versuch, sich dieser Debatte zu entziehen spricht entweder für eine massive intellektuelle Schwäche, wie sie gerade unser Verkehrsminister erneut beweist – oder aber, was viel schlimmer wiegt, für die Akzeptanz des Status Quo und damit einen Umstand, den niemand unterstützen kann, der*die ein grundlegendes Interesse an einer lebenswerten Zukunft, nein, überhaupt an einer Zukunft für diesen Planeten hat. Es ist unbestreitbar, dass unsere deutsche und europäische Art zu Wirtschaften nicht gesund und nicht vernünftig ist. Nicht gesund, weil gerade aus globalem Blickwinkel die Probleme mit jedem Tag zunehmen: der menschgemachte Klimawandel schreitet unaufhörlich voran und der Mensch zerstört sich seine eigene Lebensgrundlage. Nicht vernünftig ist sie, weil ausgerechnet die Profiteure dieser Zerstörung nicht die Leidtragenden sind und alles daran setzen, es auch nicht sein zu müssen, wie unter anderem der Aufschrei der Wirtschaftslobbyisten in der SPD beweist.

In einem schrecklichen Maße beschämend hingegen ist die Reaktion vieler Kritiker*innen. Da wird mit historisch unhaltbaren Vergleichen „argumentiert“, es werden ganz offen falsche Aussagen verbreitet, die so nie getroffen wurden – und wer es wagt, diese Form des öffentlichen Anprangerns eines Andersdenkenden überhaupt anzusprechen, dem wird gerne und schnell vorgeworfen, er*sie sei unsolidarisch und das auch noch mitten im Wahlkampf. Wenn das ein Ausdruck moderner Debattenkultur sein soll, man kann der Menschheit nur viel Glück wünschen, mit der Vernunft ist es dann nämlich nicht weit her.

Kevin Kühnert hat im Interview mit der ZEIT nämlich eine ganze Reihe vernünftiger Vorschläge gebracht, die allesamt diskussionswürdig sind. Der Vorwurf, diese Gedankengänge seien nicht mehrheitsfähig mag nicht falsch sein – aber wäre das der Maßstab für die Relevanz einer Idee, es gäbe keine Partei in Deutschland, die noch Wahlprogramme drucken dürfte. Die Schnappatmung mit der aus konservativer und vermeintlich-liberaler Ecke reagiert wird, offenbart den getroffenen Nerv: es geht schlichtweg um eine neue Form des Wirtschaftens und damit letztendlich auch des Lebens selbst. Will sich der Mensch befreien aus seiner Misere, dann muss er bereit dazu sein, bestehende Strukturen umzuwerfen und neu zu denken – nicht im Sinne einer Unterhemd-Posterboy-Kampagne, nein, in dem Sinne, der die SPD überhaupt erst notwendig machte: um allen Menschen eine Teilhabe am großen Kuchen zu ermöglichen, der tagtäglich verteilt wird.

Wer mir sagen kann, was die Liedzeile im Titel aussagen soll, schreibt mir bitte. Aber irgendwo ist Dicht&Ergreifend da auch etwas auf der Spur. Ähnlich unverständlich ist nämlich der Begriff der Heimat in der Politik, sowie die ganze Debatte darum. Was zum Teufel ist eigentlich Heimat? Und ist es gerade für die Sozialdemokratie eine gute Idee mit Heimatgefühlen Politik zu machen?

„Bayern, des samma mir“

Eine ausreichende Definition konnte mir noch niemand liefern. Meistens werden Personen, Orte und Sinneseindrücke aneinandergereiht um ein gewisses heimatliches Gefühl zu beschreiben. Immer also ist die Heimat etwas absolut Subjektives und schwierig abzugrenzen. Und daraus soll jetzt irgendwie politisches Kapital geschaffen werden. Dass das kläglich scheitert sieht man an den jüngsten Beispielen: Christian Lindner hat Verständnis für Rassismus beim Bäcker, die CSU stellt im Landtag Eilanträge, weil ein bayerischer Kindergarten einen christlichen Feiertag begeht, der wohl als „unbayerisch“ angesehen wurde, und der Grüne Landtagswahlprogrammentwurf bringt solche Stilblüten zu Tage, wie „Baukultur ist und schafft Identität und Heimat“.

An den Umfragewerten scheint sich durch solche Aktionen relativ wenig zu ändern, die Frage ist, wann das auch in den jeweiligen Parteizentralen ankommt, beziehungsweise ob es sie überhaupt interessiert. Der CSU kann eine starke rechte Opposition eigentlich ganz gelegen kommen, heißt es doch, dass jede Koalition gegen die CSU von Mitte links verhindert wird. Die Grünen haben mittlerweile begriffen, wer sie wählt, nämlich reiche Menschen in Städten und so ein bisschen Heimat findet ja auch die ökobewusste Oberschicht nicht schlecht, die FDP hat seit dem Jamaika-Aus ja allgemein Probleme sich zu profilieren, Christian Lindner möchte einfach gerne ins Fernsehen und Sahra Wagenknecht war ja immer schon Anhängerin eines sehr national zentrierten Sozialismus. Die SPD dagegen scheint als einzige großen Schaden vom derzeitigen Themenmainstream zu nehmen.

„Warum wählst du SPD?“ – „Naja, wir können ja nicht alle aufnehmen.“

Wenn Andrea Nahles sagt, dass wir nicht alle aufnehmen könnten, ist das vielleicht eine wahre Aussage, aber ein Strohmannargument und überhaupt als Statement wahnsinnig dumm. Wer sind denn „alle“? Wollen die überhaupt „alle“ hierher? Wer hat denn gefordert, dass „alle“ hierher sollen? Und wer ist überhaupt dieses „wir“, das auf diese Weise immer wieder gebraucht wird, um sich gegen das Fremde abzugrenzen, das man ja nicht aufnehmen könne. Was wir derzeit erleben ist die Wiederentdeckung der Deutschtümelei in der Politik, durch alle Lager hindurch. Politiker*innen möchten den Menschen ein „Heimatgefühl“ geben, wohlig warm, bloß ohne böse Einflüsse aus der weiten Welt.

Die SPD ist als Partei wie keine andere absolut ungeeignet aus einem „Heimatgefühl“ Kapital zu schlagen. Über alle Bevölkerungsschichten hinweg wird sie gleich wenig gewählt und die Lebensrealitäten dieser Schichten sind viel zu unterschiedlich, als dass es abzuschätzen wäre, welche verquere Symbolpolitik an welchem Ende mehr Wähler*innen einbringt als kostet. Söder kann darauf vertrauen, dass die konservativen Stammwähler*innen seinem Kreuzzug relativ positiv oder wenigstens gleichgültig gegenüberstehen. Aber worauf kann die SPD vertrauen? Was erwarten die Menschen von ihr?

Ich wage zu behaupten, keine Deutschtümelei. Das beste Ergebnis im Bund fuhr die Partei immerhin mit Willy Brandt ein, Autor des Buches „Verbrecher und andere Deutsche“.

Mein linker linker Platz ist frei

Durch den ganzen Heimatdiskurs kommt vor allem ein großes Thema zu kurz, was die SPD in der Vergangenheit immer gern bespielt hat, die soziale Frage. Zu den Groko-Verhandlungen gab es mal einen kurzen Zeitraum in dem es öffentlichen Diskurs über soziale Themen gab, nämlich als es darum ging, was die SPD der Union an Zugeständnissen entlocken kann. Da wurde tatsächlich über eine „Bürgerversicherung“ diskutiert, man hörte Forderungen nach einer Mindestlohnerhöhung, endlich Themen bei denen die Sozialdemokratie punkten könnte. Nur leider ist davon nicht mehr viel übrig geblieben, seitdem die Partei im Bund in Regierungsverantwortung ist und Debattenbeiträge kommen nicht mehr aus der vorderen Reihe der Partei, die in der Koalition möglichst staatstragend aussehen möchte, sondern etwa von Michael Müller, der eine Debatte um einen solidarischen Arbeitsmarkt aufwirft.

Könnte die Partei nicht einfach mal versuchen diese krasse Lücke links im Parteienspektrum zu schließen, die sich seit langer Zeit mehr und mehr auftut? Wo Grüne immer konservativer und Linke immer nationalistischer werden könnte sich doch eine SPD glaubhaft gegen diese Heimatduseligkeit stellen und konkrete sozialpolitische Forderungen aufstellen. Anstatt „Wir können nicht alle aufnehmen“ könnte Andrea Nahles dann mit „Wir wollen eine Kindergrundsicherung, aber mit der Union ist gerechte Familienpolitik leider nicht zu machen“, zitiert werden.

Natürlich bräuchte es hierzu einen inhaltlichen Erneuerungsprozess, wurde ja auch versprochen. Wann fängt der denn jetzt endlich mal an? Jetzt wäre die Zeit mit mutigen Forderungen voran zu gehen. Michael Müller hat das immerhin schon mal erkannt.

Die Verhandlungen um eine große Koalition scheinen gegenwärtig so ziemlich alles zu überschatten. So war unter anderem eine doch auch sehr interessante Forderung der Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag, Sarah Wagenknecht, ziemlich in der politischen Debatte untergegangen. In einem Spiegel Interview vom 13.01.2018 hat die Frau des Ex-Linken-„Stars“ Oskar Lafontaine vorgeschlagen, in der deutschen politischen Landschaft eine große, linke Sammlungsbewegung zu etablieren.[1]

Ja, ich gebe zu, ich habe schon immer eine große Sympathie für eine große linke Bewegung, doch in der ganzen Debatte stelle ich mir die Frage, ob dieses Projekt im Widerspruch zum Anspruch der Parteien auf der linken Seite, die immer wieder in den letzten Jahren für Mehrheiten gekämpft haben, steht. In den vergangenen Legislaturperioden von 2005-2009 und auch von 2013-2017 hat es eine Mehrheit links der Mitte im Parlament gegeben, doch nie fanden sie zusammen. Ob die Gründe in der Abwehrhaltung einiger Mitglieder der Linken liegen oder im rechten, konservativen Lager innerhalb der SPD, dem Seeheimer Kreis: Nie wurde groß über die Möglichkeit einer links-sozialökologischen Regierung gesprochen. Gerade aber in der SPD hat man sich das Leben leicht gemacht und ist  mal wieder mit der Union ins Bett gestiegen.

Im Jahr 2005 erreichte R2G insgesamt 51% der Stimmen und hätten mit 327 Sitzen eine doch recht vernünftige Mehrheit gehabt. Auch im Jahr 2013 hätte es die Möglichkeit gegeben, doch die Mehrheit der Mitglieder haben sich bei einem Mitgliedervotum für eine erneute Große Koalition ausgesprochen.

Man sieht an diesen Zahlen doch auch recht deutlich, dass das Problem nicht inhaltlich, sondern meist eher persönlich begründet wird. Die Linken, die grob gesagt eine Abspaltung der SPD ist, wären inhaltlich weiter entfernt als die Union es ist? Ziemlicher Unfug, gerade wenn mensch auch die beiden Wahlprogramme mal miteinander vergleicht. Interessanter ist wohl eher der Umstand, dass man sich wohl einem rot-rot-grünen Bündnis verweigert, weil ein Oskar Lafontaine (seines Zeichens ehemaliger SPD-Vorsitzender) aufgrund der neoliberalen Kurswende unter Schröder aus der SPD ausgetreten ist und eine Konkurrenz-Partei – die Linke – mitgegründet hat. Weiter existiert in unserer Partei auch noch der konservative, neoliberale und karrieristische Seeheimer Kreis um Johannes Kahrs, dem es nicht zu schade ist, für Pöstchen alles zu tun und damit im Zweifel auch ein paar Werte über Bord zu werfen. Gerade was das Thema des Spitzensteuersatzes und auch der Vermögenssteuer angeht, sind es die Seeheimer*innen, die als erstes die Stimme dagegen erheben.

Allerdings muss auch gesagt werden, dass es ein Oskar Lafontaine und eine Sarah Wagenknecht waren, die gerade innerhalb der Linken ein progressives, linkes Bündnis verhindern wollten. Bis heute spürt mensch diesen Geist in der Partei: Statt sich gegen rechtsnationale, konservative und neoliberale Parteien deutlich zu positionieren, nutzt sie jegliche Möglichkeit gegen die Sozialdemokratie zu schießen und damit schlichtweg auch eine potentielle Zusammenarbeit zu verhindern.

An diesen Gegebenheiten und den Zahlen der Ergebnisse und der daraus resultierenden Nichtwahrnehmung einer Koalitionschance auf der linken Seite des Parlaments, sowohl 2005 als auch 2013, lässt die Idee eines irgendwann noch existierenden Bündnisses aus Linke, Grüne und SPD immer weiter entfernt erscheinen. Klar gesagt: Man hat etliche Chancen verspielt. Die SPD hat sich bei diesen Gelegenheiten doch immer und immer wieder für eine Politik des Aussitzens und Stillstands mit der Union entschieden. Und mittlerweile ist es ganz und gar nicht sicher, dass die als möglichen Partner*innen geltenden Parteien, also SPD, Grüne und Linke in ihrer jetzigen Formation und mit ihren jetzigen Führungspersonen eine solche linke Mehrheit in Zukunft und in absehbarer Zeit wollen und erreichen könnten: Die gegenwärtige Parteispitze der Grünen mit ihrer deutlich sichtbaren Neigung zu Schwarz-Grün und das Führungspersonal der SPD, das das Gespenst der „roten Socken“ mittlerweile genauso verinnerlicht hat, wie die Union, wird vermutlich auch künftig Chancen, wie sie 2005 und 2013 gegeben waren, nicht nutzen. Auch die Linken – allen voran eigentlich Wagenknecht und Lafontaine – bewegen sich lieber in der Opposition als in einer Regierung.

Ich persönlich gebe zu, dass ich ein Freund der Idee einer linken Sammlungsbewegung in Form eines linken, progressiven Wahlbündnisses bin. Allerdings wird sowas nur funktionieren, wenn innerhalb dieser drei Parteien kleine bis große Erneuerungsprozesse stattfinden: Gerade in der SPD, in der der Seeheimer Kreis die Szene beherrscht und die führenden Gruppierungen damit erkennbar zufrieden sind, dass die Partei in Regierungssesseln auch dann hockt, wenn sie den Kurs der Regierung nur noch ganz minimal bestimmt, wird sich leider so schnell nichts ändern. Ein Lichtblick hierbei ist allerdings dann doch der vergangene Parteitag: Ganze 44% der mittleren Funktionär*innenebene haben sich am Sonntag gegen eine Aufnahme von Koalitionsgespräche mit der Union ausgesprochen. Eine sehr wichtige Arbeit dahingehend haben – darauf können wir auch ruhig ein großes Stück weit stolz sein – wir Jusos geleistet. Es ist für den Fortbestand der Sozialdemokratie wichtig, dass sich die Mehrheit der Mitglieder gegen eine Große Koalition ausspricht. Es ist endlich Zeit für ein Ende der Minimalforderungen, es ist endlich Zeit für ein Ende einer neoliberalen Politik, es ist endlich Zeit für ein Ende von Großen Koalitionen.

Andernfalls werden wir Sozialdemokrat*innen nicht nur daran Schuld sein, dass der Rechtspopulismus in unserem Land noch weiter zunimmt, sondern dass wir uns damit auch noch selbst unser eigenes Grab schaufeln.

Liebe Genoss*innen, die GroKo wurde abgewählt! Die Bürger*innen haben keinen Bock mehr auf uns, sie wollen endlich in einem gerechteren und einem sich bewegenden Land leben. Dafür brauchen wir linke Mehrheiten und wieder fortschrittliche, soziale und ökologische Politik! Das geht nur, wenn wir jetzt endlich von unseren mittlerweile angeschwärzten Sesseln aufstehen, den Nazis der AfD im Parlament klar den Kampf ansagen und für linke Mehrheiten streiten! Es geht nicht nur um uns! Es geht besonders um die Menschen in unserem Land! Lasst uns mutig sein!

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-sahra-wagenknecht-will-neue-linke-volkspartei-a-1187565.html

Liebe kann weh tun. Das tut sie auch – nämlich dann, wenn sie auf Zweifel stößt. Und Zweifel dürften den kühnen Beobachter*innen der Regierungsbildung in die letzten Monate nicht erspart worden sein. Beginnend mit dem enttäuschenden, wenn auch nicht ganz unerwarteten, Bundestagswahlergebnis und unlängst endend mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Sondierungsgespräche.

Die SPD ist, eine Spezialität des Hauses, gespalten, wenn es um die Frage der Regierungsverantwortung geht. Während Schulz am Wahlabend noch große Töne spuckte, es werde keine „GroKo“ mehr geben, scheint das manch prägende Persönlichkeit innerhalb der Partei Mitte Januar bereits wieder ganz anders zu sehen. Da können die Jusos mit ihrer #noGroKo-Kampagne noch so toben, die Wahlprognosen noch so weit sinken – der eiserne Kern bleibt bei seinem Plädoyer für eine erneute große Koalition. Ist das tatsächlich bloßer Starrsinn oder lässt sich diese Position relativieren?

Die am längsten bestehende Partei Deutschlands wird gerne zum Sündenbock gemacht : Heißt es GroKo, stehen wir nicht zu unseren Idealen, heißt es „no GroKo“, sind wir verantwortungslos. Dabei ist Verantwortung sehr verschieden auszulegen  – Regierungsverantwortung muss nicht heißen, mit der Union zu koalieren, sondern kann ebenso bedeuten, eine starke Opposition anzuführen und damit unter Umständen sogar mehr für eine qualitative Bundesregierung zu tun. Zugegebenermaßen lässt sich die SPD für ihren Umgang mit der Regierungsbildung kritisieren : eine klare Linie, die im besten Fall an die Meinung der Parteibasis gekoppelt ist, wäre wünschenswert. Und den Idealen der Sozialdemokratie treu zu bleiben ebenfalls.

Blöd nur, wenn die SPD in ihrer Vielfalt und den sich kontrastierenden Meinungen ihrer Mitglieder ihre Ideale ein wenig versteckt hält. Eine Frage, die SPD-Mitglieder sich im Januar 2018 stellen sollten, ist, woran sie eben solche Ideale fest machen möchten und wie viel Abweichung sie der dominierenden Führungsriege durchlassen können. Die Bundestagswahl 2017 hat die deutsche Sozialdemokratie in eine wahre Sinn- und Identitätskrise gestürzt – die wohl längst überfällig war.

Zwei Legislaturperioden GroKo haben die SPD in vielerlei Hinsicht durch den Fleischwolf gedreht. Während das Immergleich der Union der SPD eine gehörige Portion Trägheit abgegeben hat, hat erstere es verstanden, Errungenschaften der SPD auf sich zu münzen (Stichwort Mindestlohn). Was den Sozialdemokrat*innen in der Bundesregierung fehlt, ist der Mut, das Allbekannte hinter sich zu lassen und statt bedingungsloser Kompromissbereitschaft bedingungsloses Durchsetzungsvermögen an den (Bundes-)Tag zu legen. Die Partei wirbt zwar mit einem Erneuerungsprozess – aber widersprechen sich nicht Koalitionsbestreben, also Fortsetzen des Status Quo, und der Wunsch nach Erneuerung? Acht Jahre GroKo haben nicht nur die Prozente der SPD ins Negative gewandelt, sondern auch das Vertrauen in die Partei – intern wie extern. Die SPD als Arbeiter*innenpartei grenzt sich von der Union dadurch ab, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auf allen Ebenen, wie konkret die Bürger*innenversicherung eine wäre, zu stellen. Was Befürworter*innen der GroKo zu verkennen scheinen, ist, dass nicht nur ein vorauseilender Gehorsam in der Kompromissfindung zu einem (in diesem Fall eher ernüchternden) Ergebnis führt, sondern auch das dezidierte Vertreten neuer Ideen und Ansätze. Zwar ist „das Sondierungspapier“ nicht frei von Errungenschaften – aber wie genügsam wollen wir noch sein? Zu welchem Preis und zu welchem Nutzen? Schließlich haben wir Wahlversprechen einzulösen, die nicht bloß unser Verlangen nach besseren Werten decken dürfen, im Gegenteil den Zweck erfüllen sollten, die Missstände, die ihnen zu Grunde liegen, zu bekämpfen. Eine Obergrenze, die laut Klingbeil keine ist, neuerdings auch atmender Deckel genannt, ist höchstens geeignet, den*die urtreuen Sozialdemokraten*in nach Luft schnappen zu lassen.

Es fehlt gerade noch, dass im Parteivorstand bald Krawattenmodell „atmender Dackel“ getragen wird – Hundekrawatten liegen im Trend.

Schon einmal hat die SPD zu Zeiten des Burgfriedens den fatalen Fehler begangen, statt aus verschiedenen Ansichten eine Essenz zu ziehen, Andersdenkende innerhalb der eigenen Reihen zu verurteilen. Solidarität darf nicht nur nach außen gefordert werden, muss auch denen zu Teil werden, die einem selbst am nächsten stehen. Solange wir uns noch als Volkspartei bezeichnen dürfen, liegt unsere Identität viel mehr im Pluralismus unserer Ansichten als im Einheitsbrei – denn dass der weder uns noch unseren Wahlversprechen taugt haben die letzten acht Jahre bewiesen.

Wohin führt nun also die Frage nach der sozialdemokratischen Identität? Fest steht, dass jede*r Genoss*in die Antwort darauf selbst finden muss und jeder einzelne Ansatz legitim ist, insofern er die Selbstkritik nicht ausschließt. Meinungsverschiedenheiten sind die Basis einer differenzierten Meinungsbildung. Und trotzdem, so schwer es uns fällt, müssen wir lernen, miteinander schonender umzugehen, alles in allem an einem Strang zu ziehen. Eine SPD, die an inhaltlichen Unstimmigkeiten und kleinkariertem Flügelstreit zerbricht, statt daran zu wachsen, hilft weder der Partei selbst noch ihrer Medienwirksamkeit.

Meine ganz persönliche Antwort auf meine Zugehörigkeit innerhalb der SPD habe ich übrigens gefunden. Trotz seiner Verbannung aus der algerischen Kommunistischen Partei befand Albert Camus kurz vor seinem Tode noch, er „gehöre zu dieser Linken, mir und ihr zum Trotz.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Das war es also erst einmal wieder mit der Weihnachtszeit. Kaum durfte man das erste Türchen am Adventskalender öffnen, da stürzte man sich Samstagnachmittag ins Getümmel, um auch ja niemanden zu vergessen. Wenig später dann der fulminante Höhepunkt – die Weihnachtsfeiertage selbst. Sogar mal in die Kirche gehen (wie war das mit der Weihnachtsgeschickte, Nächstenliebe oder so?), Tante und Onkel einen Besuch abstatten, wenn es hochkommt „für die armen Menschen beten“ oder UNICEF/Brot für die Welt/Misereor ein kleines Sümmchen überweisen. Und schon ist das Spektakel für ein weiteres Jahr geschafft.

 

Aber was bleibt dann? Außer vielleicht einigen Kilos mehr, einem Haufen an Dingen, die man vielleicht brauchte aber – irgendwie auch nicht? Die Gewissheit, dass man die fernere Verwandtschaft und erst recht keine Kirche mehr von innen sieht bis zum nächsten Heiligen Abend? Ein Wall an Geschenkpapier und Altglas, den man lieber nicht in die Sammeltonne vor der Tür befördern sollte? Ne, echt, lasst es erst einmal (passt doch eh nichts mehr rein).

Aber genug, man möchte das Jahr doch nicht mit einer Schimpftirade auf das Weihnachtsfest, einem der wenigen besinnlichen Momente dieses turbulenten Jahres, beenden. Ich liebe Weihnachten. Ich liebe es, mit der Familie zusammen zu sein, einfach mal zur Ruhe kommen. Ich liebe es, mit Mama Plätzchen zu backen, meine alten Schulfreund:innen zu treffen und in Nostalgie zu schwelgen, laut und schief mit meinen Schwestern Weihnachtslieder zu singen. Und ich liebe es, dass wir uns vor Weihnachten Gedanken machen, womit man Anderen eine Freude bereiten könnte. Gerade diesen Geist der Weihnacht würde ich mir häufiger wünschen. Damit es ist also nicht bloß bei ein paar Pfennigen an UNICEF, einem heuchlerischen Stoßgebet oder einem Truthahn in Größe eines Kleinwagens bleibt. Es folgt meine ganz persönliche Neujahrswunschliste an unsere Gesellschaft:

Ich wünsche mir für 2018, dass wir wieder mehr Rücksicht aufeinander nehmen.
Gefangen im eigenen Kosmos und Stress vergessen wir doch allzu oft, auch einmal danke zu sagen. Nicht nur denen, die uns nahe stehen, aber auch jenen, die sich für unsere Gesellschaft aufopfern und denen wir tagtäglich begegnen, ohne weiter darüber nachzudenken. Das hier geht an die Ehrenamtlichen, die Supermarktkasse, die Feuerwehr, die Rettungssanitäter:innen und alle, die sich gerne angesprochen fühlen möchten.
Und warum nur spenden, um das eigene Gewissen zu erleichtern und nicht viel eher, um tatsächlich etwas Gutes zu tun? Kleine aber regelmäßige Spenden erleichtern gemeinnützigen Organisationen die Planung ihrer Arbeit. Oder einmal den freien Sonntag nutzen, um mit den Tieren im Tierheim zu spielen, in der Seniorenresidenz mit den alten Damen und Herren ins Gespräch zu kommen. Es wird unterschätzt, welche Bereicherung es mit sich bringt, von Zeitzeug:innen erzählt zu bekommen und wie viel Freude ein offenes Ohr, eine Partie Mensch ärgere Dich nicht, nur ein paar Stunden Aufmerksamkeit bringen kann. Ich würde mir auch wünschen, dass wir wieder mehr miteinander reden. Was für uns eine Viertelstunde am Telefon bedeutet, kann für Oma und Opa das Tages-Highlight sein. Und mal ganz ehrlich: es tut uns doch auch gut, ein bisschen Heimat aufzuschnappen.
Generell könnten wir versuchen, wieder mehr Zeit füreinander zu haben – ohne einen Bildschirm vor der Nase. Warum nicht nur mit der Clique ins Café um die Ecke, damit Instagram was zu sehen bekommt, sondern auch einmal die obdachlose Person, an der man jeden Tag vorbeieilt, auf einen Kaffee einladen, mit ihr ins Gespräch kommen? Wir sollten uns wieder mehr respektieren, Einzelschicksale erkunden, über den (Seitan-) Bratentellerrand hinausschauen, Mitgefühl zeigen, ohne zu bemitleiden, sondern gemeinsam daran arbeiten, uns auf einer menschlichen Ebene zu treffen.

Alles in allem wünsche ich mir, dass wir positiver an das neue Jahr herangehen, 2017 mit allen seinen Tiefpunkten hinter uns lassen und dem neuen Jahr eine Chance geben. Das schaffen wir aber nur gemeinsam. Den Weihnachtsmann hat Coca-Cola vielleicht erfunden, das Weihnachtsfest und seinen Ursprung aber nicht gepachtet. Lasst uns froh und tüchtig sein, damit wir uns beim nächsten Weihnachtsfest weniger gedankenlos das Geschenkpapier um die Ohren werfen.

Wenn Ihr weitere Ideen für Vorsätze dieser Art habt, Dinge, die man machen kann, um unsere Gesellschaft ein bisschen besser zu machen, kommentiert sie hier! Ich bin mir sicher, wir bekommen eine gute Liste zusammen.

Am heutigen Reformationstag konnte man ihm nicht entkommen, dem dicklichen Mönchlein aus Eisleben, ob man nun den Newsfeed auf Facebook verfolgte oder ganz klassisch in der Tageszeitung blätterte, überall sprang einem der Martin Luther geradezu ins Gesicht. Der große Reformator scheint 500 Jahre nach seiner Wirkungsphase immer noch so umstritten wie in der frühen Neuzeit zu sein. Dieser Blogartikel soll sich allerdings, im Gegensatz zu fast allen anderen heute veröffentlichten Diskussionsbeiträgen, weder an Luther abarbeiten, noch seine vermeintlichen oder tatsächlichen Verdienste herausstellen. Denn sowohl zu Luthers Hass auf das Judentum, zu den verheerenden Auswirkungen seiner Schrift „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“ auf das Verhalten der deutschen Fürsten während der Bauernkriege als auch über seine Bibelübersetzung und seinen Einfluss auf die Theologie ist schon alles gesagt und geschrieben worden und zwar von qualifizierteren Menschen als meiner Wenigkeit.

Ich möchte stattdessen ein durch das Reformationsjubiläum neu aufgekeimtes kritisches Interesse vieler links denkender Menschen an der Person Martin Luther und die Verärgerung vieler protestantischer Gläubiger über Kritik an Luther nutzen, um auch mal auf das Verbindende zwischen linker Weltanschauung und christlichem Glauben hinzuweisen. Dieses Verbindende, fällt nämlich leider die meiste Zeit unter den Tisch, obwohl es doch in vielen Bereichen wirklich auf der Hand liegt.

Als während der letzten beiden Jahre viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, war es eindeutig, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen Evangelium und linker Lehre geben kann. Man sah linke Facebook Seiten pro-refugees-Statements von Bischöfen teilen und hörte ständiges Gejammer von der AfD-Funktionärsriege über die „links-grün versifften“ Amtskirchen, die für den Geschmack der AfD in diesem Falle die Lehren Christi zu wörtlich nahmen. Die solidarischen Reaktionen von linken und vielen christlich-engagierten Menschen auf die Geflüchteten waren kein Zufall, denn man kann sie auf ein gemeinsames Menschenbild, das die Gleichwertigkeit aller Menschen betont, zurückgreifen. Zwar leiten die einen die Gleichwertigkeit aus der Gottebenbildlichkeit aller Menschen her, wohingegen die anderen versuchen diese säkular zu begründen, trotzdem läuft es letztlich auf das gleiche hinaus.

Ein weiteres Exempel gab uns der gute Rudi Dutschke, als er 1967 in seinem inzwischen berühmt gewordenen Interview mit Günter Gaus verlauten ließ: „Was heißt Christ? Heute sind Christen und Marxisten in diesen entscheidenden Grundfragen, in diesen geradezu emanzipatorischen Interessen – Friede, und es gibt noch andere – da sind wir uns einig.“ Und ergänzte in einem anderen Zusammenhang in Anlehnung an die neomarxistische Philosophie eines Ernst Bloch:  „Ich bin ein Sozialist, der in der christlichen Tradition steht. Ich bin stolz auf diese Tradition. Ich sehe Christentum als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit.“ Leider konnte Dutschke nicht mehr erleben, wie er in Bezug auf die Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung Recht behielt, auch hier fanden sich viele christliche und linke Aktive auf derselben Seite wieder. Und müssen wir Dutschke und Bloch nicht auch dabei zustimmen, dass der christliche Himmel und die sozialistische Utopie eigentlich beide die gleichen Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschheit zum Ausdruck bringen?

Der sozialdemokratische Kulturpolitiker Adolf Grimme ging bei der Betonung des Verbindenden sogar noch weiter und stellte die provokante These auf: „Sozialisten können Christen sein, Christen müssen Sozialisten sein.“ Auch solch zugespitzten Aussagen, wie der von Grimme kann man gegebenenfalls zustimmen, allerdings muss dann abgegrenzt werden, welche „Christen“ mit dieser These gemeint sind. Denn natürlich ist es abwegig, reaktionäre Gläubige, wie Gloria von Thurn und Taxis, Josef Ratzinger oder andere Pharisäer  als BündnispartnerInnen anzusehen. Es geht um ein fortschrittliches, emanzipatorisches Christentum, das man auf der eigenen Seite wissen muss. Nicht um die verkrusteten teils homophob-sexistisch ausgerichteten Kirchen, sondern um den einzelnen Gläubigen geht es, der die Welt aus einem lebendigen Glauben heraus schon im Diesseits zu einem besseren Ort machen will. Wir müssen uns als Linke mit denjenigen verbünden, die den Jesus hochhalten, der die Händler und Geschäftemacher aus dem Tempel vertrieben hat.  In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat des roten Paters – einer Figur aus Isabell Allendes Geisterhaus – schließen: „Die heilige Mutter Kirche, mein Sohn, steht rechts, aber Jesus Christus stand immer links.“

 

 

 

 

Die Bundestagswahl vor genau vier Wochen hat uns junge, politische Menschen ziemlich aus den Socken gehauen: Eine Nazi-Partei mit blauem (ein brauner Anstrich wäre wohl eher richtig) hat es den sogenannten „etablierten“ Parteien gezeigt und bei den historischbedeutenden Wahlen am 24.09.17 aus dem Stand knapp 13% der Stimmen geholt und wurde somit zur drittstärksten Kraft im Bundestag. Das ist nicht nur eine Schande für Deutschland, das ist – zugegebenermaßen – auch eine Schande für die bis jetzt regierenden Parteien CDU/CSU und leider auch der SPD. Diese drei Parteien haben bei den Wahlen massiv an Stimmen eingebüßt und wir müssen uns – gerade besonders wegen dem Hintergrund, dass jetzt erstmals nach 1945 wieder Nazis in unserem Parlament sitzen – nun wirklich intensiv mit dieser Situation auseinandersetzen und gerade in unserer Partei einiges hinterfragen.

Beim Wahlkampf in Straubing und Umgebung wurde ich sehr oft mit besonders einem doch sehr eindrucksvollen und argumentativ zerschlagenden Mantra konfrontiert: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Immer und immer wieder wurde mir vorgehalten, dass wir als SPD unglaubwürdig wären, da wir im Wahlkampf immer von Sozialer Gerechtigkeit geredet haben, aber danach eben genau das mit unserer Politik nicht sonderlich verfolgt hätten. Ja, wir haben wirklich einige gute Dinge in den letzten Jahren in der Regierung durchgesetzt (besonders bezogen auf den Mindestlohn, das ElterngeldPlus, die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren), aber warum werden wir doch immer als unglaubwürdig abgestempelt?

Das oben genannte Mantra stellt im Wesentlichen eins unserer größten Kernprobleme dar:  Die Sozialdemokratie war seit ihrer Gründung immer die klassische Arbeiter*innenpartei, die sich besonders immer den Armen, Schwachen und den einfachen Arbeiter*innen angenommen hat. Ganz nach den Grundwerten von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Doch mit Beginn der SPD-Kanzlerschaft unter Gerd Schröder wurde der ideologische Abstieg der SPD eingeläutet: Die Agenda 2010, die im Jahr 2003 begonnen wurde, hatte ursprünglich – etwas vereinfach dargestellt – zum Ziel, die damals bei etwa 10 % liegende Arbeitslosenquote zu senken und die Wirtschaft anzukurbeln. Gerade Langzeitarbeitslose und gering Qualifizierte sollten wieder eine Beschäftigung bekommen. So weit so gut: Die Regierung verbesserte in erster Linie allerdings erst die Möglichkeiten für Unternehmen, Arbeiter*innen für einen geringeren Lohn anzustellen, wie vorher, indem sie dieLeiharbeit deregulierte und dafürsorgte, dass Leiharbeiter*innen zeitlich unbegrenzt angestellt werden konnten und gleichzeitig viel weniger Entlohnung für deren Arbeit bekommen, als dies Festangestellte bekamen. Dies ist nur ein ganz kleines Beispiel für den neoliberalen Geist in dieser Reform. Einführung des 3-Säulen-Modells der Rente und dem damit einhergehenden Absenken des gesetzlichen Rentenniveaus, Hartz IV und vieles, vieles mehr waren alles Inhalte der Schröder- und damit auch SPD-Politik um die Jahrhundertwende.

Für uns als SPD sind diese Reformen auch eine Abkehr von unserem eigentlichen sozialistischen Selbstverständnis: Die „Agenda 2010“ brüskierte die Gewerkschaften und viele überzeugten Sozialdemokrat*innen und zeriss dann auch unsere Partei, was zur Entstehung der Linken führte. Der Kurswechsel der Sozialdemokratie ging sogar so weit, dass selbst ein FDP-Politiker Schröder applaudierte, als er die Leitlinie der „Agenda 2010“ zusammenfasst: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern.“

Dies ist der sogenannte „Verrat“ an unserem Hauptklientel. Betrachtet man besonders die Wahlergebnisse der SPD nach diesen Reformen, dann fällt eines klar auf: Wir haben stetig verloren und stehen nun (wohl gemerkt: 2002 bekam die SPD 38,5%, 2005 nach der Einführung der Agenda 2010 undden vorgezogenen Neuwahlen erreichten wir nur noch 34,2%. 2009 waren es 23%, 2013 25,7 %) bei 20,5% und wir stellen uns jetzt erst einmal die Frage, ob wir denn eigentlich mit so einem Ergebnis noch als Volkspartei zählen würden. Wir haben jahrelang die Agenda-Politik verteidigt und waren Teil des kapitalistischen Systems. Wir haben nicht einmal nach der Spaltung unserer Partei oder dem historisch zweitschlechtestem Ergebnis 2009 darüber nachgedacht, was wir falsch gemacht haben. Gerade wir als Parteilinke haben durchwegs zugesehen, wie der konservative SPD-Flügel um die weißen Herren aus Hamburg, Niedersachsen und auch Nordrhein-Westfalen immer so weiter ihre Politik betrieben haben und immer die lauteste und stärkste Stimme in unserer Partei waren. Wir haben immer wieder zugunsten des Friedens und der Geschlossenheit unsere Ideale quasi wieder in der Abstellkammer versteckt, um sie vier Jahre später kurz zum Abstauben wieder rauszuholen. Aber wie immer haben wir sie wieder versteckt, nicht dass wir noch medial aufgrund einer mangelnden Geschlossenheit zerpflückt werden. Naja, was die Folge dabei war, ist mehr oder weniger ersichtlich: Die neoliberale Politik der SPD, die seit Schröder gefahren wird, hat eindeutig gezeigt, dass sie nicht von Erfolg gekrönt ist. Und gerade deshalb müssen wir jetzt als Parteilinke radikal in diese Partei einwirken und nicht nur dafür sorgen, dass wir wieder eine oppositionelle Kraft zum kapitalistischen System werden, sondern dass endlich auch personell ein vollkommener Wechsel vollzogen wird.

Martin Schulz hat einen wirklich hervorragenden Wahlkampf gemacht, hat als erster Parteivorsitzender wieder die Agenda 2010 an manchen Stellen kritisiert und hat das Thema der Sozialen Gerechtigkeit gut im Wahlkampf eingebracht. Er ist alles andere als Schuld an diesem Desaster. Der Wahlkampf war wirklich gut. Kurz nach der Wahl sprach Martin sogar davon, dass unsere Partei deutlich jünger und auch weiblicher werden müsste und dass wir endlich wieder Kapitalismuskritik üben müssten. In diesem Moment war ich – hoffentlich nicht als Einziger – erstmal vollkommen geflasht. „Kapitalismuskritik“, „Verjüngung der Partei“ und „Frauen*förderung“ aus dem Mund eines SPD-Parteivorsitzenden sind Worte, die wir seit Ewigkeiten nicht mehr gehört haben!

Aber wie immer dürfen wir uns nicht zu früh freuen: Wie wir in den letzten beiden Wochen leider wieder sehen konnten, waren diese Worte wohl eher nur Phrasen, statt wirklicher Erneuerungs- und Umgestaltungswille. Seiner Ansicht nach sollten wieder mal vier Männer auf vier der fünf großen Spitzenposten Platz nehmen: Er selbst als Vorsitzender, Thomas Oppermann als Bundestagsvizepräsident, Carsten Schneider als Fraktionsgeschäftsführer und Lars Klingbeil als Generalsekretär. Wie durch ein Wunder sind alle diese Männer Teil des konservativen Seeheimer-Kreises in der SPD, während Andrea Nahles als einzige Frau und links geltende SPD-Politikerin dann hier alleine auf weiter Flur steht. Was ist jetzt mit der Frauen*förderung, der Verjüngung und der Kapitalismuskritik? Wahrscheinlich nur ein kleines Späßchen, um der Parteilinken eine Beruhigungspille zu geben und sie wieder zur Geschlossenheit aufzurufen. Verwunderlich nur, dass immer nur von Geschlossenheit gesprochen wird, wenn die Linken Ansprüche erheben, wenn sich die Seeheimer (sic!) jedoch nicht gut genug behandelt fühlen, dann ist jegliche Geschlossenheit scheißegal.

Wir sehen, dass die SPD-„Politik für die Mitte“ in den letzten Jahren alles andere als erfolgreich war, wir vor vier Wochen das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten hinnehmen mussten, weil sich viele Menschen aus Frust und Verzweiflung von uns abgewendet haben und deshalb aus Protest eine gefährliche, rechtsradikale Partei gewählt haben. Das muss ein Zeichen für uns sein!

Deshalb ganz klar: Keine verdammten Mauscheleien mehr! Wir brauchen einen kompletten Neubeginn mit vielen jungen Leuten und vielen Frauen*! Wir müssen vielfältiger werden und die Lebensrealitäten der Menschen auch in unserer Partei darstellen! Und wir müssen unser Profil schärfen, wieder Visionen wagen und uns von dem neoliberalen Geist verabschieden!

Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Auch du SPD!

Wir werden kämpfen, da könnt ihr euch sicher sein!

Venceremos!

An manchen Tagen wäre ich gern US-Amerikaner. Nicht, weil ich dann jede Woche Bier aus Pappbechern bei einem Footballspiel trinken würde oder mir beim Walmart meines Vertrauens für 20$ eine halbautomatische Waffe kaufen könnte[1], sondern wegen des ersten Verfassungszusatzes. Dieser verbietet u.a. dem Kongress Gesetze zu erlassen, die die Meinungsfreiheit einschränken. Die ganze leidige Debatte nach dem Verbot der „linksextremen“ Website „linksunten.indymedia“ hätte man sich dort vermutlich komplett gespart. Die Website wäre nämlich nie verboten worden, Free speech eben.

Im „Land der Dichter und Denker“ ist die Mentalität aber eine andere, in der BRD hat man die besagte Seite, verbunden großem Medienwirbel, für verboten erklärt. Nach dem großen Aufschrei wegen der gewalttätigen Ausschreitungen am Rande des G20-Gipfels, sah sich die etablierte Politik verpflichtet, einen symbolischen Schlag gegen die angeblich so gefährliche linke Szene vorzunehmen. Es brauchte nur ein paar maulende CDU/CSU-Politiker*innen und Sympathisant*innen, welche täglich Statements der Sorte „gegen Nazis macht ihr ständig was aber radikale Linke sind euch komplett egal“ vom Stapel ließen und schon war man zu diesem Schritt bereit. Woraus resultiert aber dieses schräge Bedürfnis der deutschen Politik „links“ und „rechts“ stets gleichsetzen zu wollen und radikale Linke Ansätze für so bedrohlich für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu halten? Meiner Meinung nach hat das Ganze sehr viel mit der Geschichte unseres Landes zu tun.

In der BRD und ihren Vorläuferstaaten hat die staatliche Mobilisierung gegen linke Gruppierungen eine lange und unrühmliche Tradition. Beginnend mit dem Deutschen Kaiserreich, das durch die Sozialistengesetzte die Sozialdemokratie verbieten ließ und der SPD mit Polizeiknüppel und Zensur zu Leibe rückte sowie Sozialdemokrat*innen als vaterlandslose Gesellen brandmarkte. Danach waren in der Weimarer Republik weite Teile der bürgerlichen Schichten von permanenter Angst vor Bolschewismus und roter Gefahr erfüllt. So angsterfüllt waren sie, dass sie einen erfolglosen Kunstmaler aus Österreich zu ihrem Führer bestimmten, der den Kampf gegen alles Linke zur Staatsräson erklärte und in der Folge ein Blutbad anrichtete. Schließlich konnte man sich in der BRD nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg wenigstens dazu durchringen, neben Marxismus und Sozialismus auch Nationalismus und völkisches Gedankengut zu verdammen. Aber auch in der Zeit des Kalten Krieges, in einem demokratischen Deutschland ließen Konservative und Liberale keine Gelegenheit aus, die Teilung Deutschlands und die Existenz der realsozialistischen Staaten in Osteuropa auszunutzen, um die politische Linke zu verteufeln und sie mit den leninistischen Zwangsregimen gleichzusetzen. Verbot der KPD, Berufsverbote und Extremismustheorie waren die Blüten dieser Politik.

Deutschland ist also ein Land, das über 40 Jahre autoritäres Kaiserreich, 15 Jahre wackelige Weimarer Demokratie, 12 Jahre Nazi-Barbarei und Jahrzehnte des Kalten Krieges hinter sich hat. Alles Zeiträume, in denen ein gewachsenes Misstrauen gegenüber der Linken perfekt gedeihen konnte und teils staatlich gefördert wurde. Der Umgang mit radikal-linken Strukturen – wie „linksunten.indymedia“ – wundert im Kontext dieser Vergangenheit nicht.

Wir können als Sozialist*innen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis ziehen. Wir müssen dafür kämpfen, dass Deutschland seine reaktionären Eierschalen endlich abwirft und seine tradierte Feindschaft gegenüber den progressiven Kräften aufgibt. Aufklärung in Form von politischer Bildung, wie sie die Jusos Bayern schon seit langen Jahren auf vorbildliche Art und Weise leisten, hat hier oberste Priorität.

 

[1] Ich entschuldige mich bei allen Anti-Ds, die diesen Artikel lesen werden für diese plakative und böswillige Stereotypisierung amerikanischer Kultur ?

Ich gebe zu: Eigentlich sollte man ja als marxistisch denkender Mensch immer nach vorne blicken. Die Kritik an diesem Blogartikel kann ich vermutlich schon Vorweg nehmen: Die Parteilinke arbeitet sich immer an den Fehlern der SPD in der Vergangenheit ab und vergisst das Hier und Jetzt. Außerdem erkenne sie die „Erfolge“ der Großen Koalition nicht an oder rede sie gar schlecht.

In diesem historischen Moment dessen Zeitzeug*innen wir während der grauen Morgenstunden dieses Freitags wurden – der Öffnung der Ehe für homosexuelle Menschen – muss es aber erlaubt sein, einen Blick in das Deutschland meiner Fantasie zu wagen, in dem eine linke Regierung noch viel weiter und tiefergehend progressiv tätig geworden wäre

Ich bin ja Realist genug, um zu wissen, dass mit einer linken Koalition nicht gleich der demokratische Sozialismus ausbricht. Allerdings muss ich sagen, dass ich es – wie viele Linke – als einen der schönsten Momente der ganzen Bundestagsdebatte empfand, als das gequälte Gesicht der Beatrix von Storch über die Bildschirme lief. Diese rechts-außen AfD-Funktionärin hatte es sich – vermutlich aufgrund einer masochistischen Veranlagung – nicht nehmen lassen, der Tilgung eines letzten Restes LGTBQI-Hasses aus den deutschen Gesetzesblättern beizuwohnen. Während dieses Moments kam in mir der schadenfrohe Gedanke auf, wie schön es doch gewesen wäre, diese leidenden Mienen der Rechten häufiger in den Medien zu sehen. Wie Frau von Storch und der restliche reaktionäre Haufen erst bei anderen linken Reformen dreingesehen hätte: Bei der Einführung einer Vermögenssteuer. Der Abschaffung der privaten Krankenversicherung zugunsten einer solidarischen Bürgerversicherung. Der Legalisierung von Cannabis. Der Durchsetzung kostenloser Bildung von der Kita bis zur Weiterbildung. Oder nicht zuletzt bei der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel. (kleiner Scherz am Rande ?)

Ich habe diese Auflistung nicht gemacht, damit wir uns als Linke ärgern wegen der vertanen Zeit. Vielmehr möchte ich motivieren für die nächste Legislaturperiode. Alles ist möglich! Ob Sozi, Grüner oder Mitglied der Linkspartei: Wir alle müssen für eine linke Mehrheit bei der Bundestagswahl und innerhalb unserer Parteien streiten. Auf dass noch viele wütende und frustrierte Gesichter von AfD-Politiker*innen unsere Fernseher, Laptops und Smartphones zieren mögen.

Es ist vollbracht. Frankreich hat gewählt – vernünftig, europäisch, Macron. Innerhalb von Minuten war meine Timeline voll mit „Merci la France“-Kacheln, Artikeln über die Wahl oder Macrons Pläne. Nur weil ein Status einen bunten Hintergrund hat, ist er aber deshalb nicht sinnvoll. Merci für was? Merci, dass die Französ*innen NICHT rechts gewählt haben? Das sollte kein Grund für eine Danksagung sein, sondern eine Selbstverständlichkeit. „Ja klar, aber nach Trump und nach dem  Brexit muss man doch…“ – Nein. Man muss deshalb nicht dankbar werden. Wir dürfen unsere anti-rassistische Messlatte nicht immer weiter hinunterhängen, nur weil rechte Pappnasen darunter Limbo tanzen.

Noch weniger nachzuvollziehen ist für mich jedoch die allgemeine Begeisterung über Macron. Es war schon mehr als irritierend, dass ihn die SPD-Führungsriege vor Wochen im Wahlkampf unterstützte. Benoît Hamon, der Kandidat der Parti Socialiste (PS), durfte derweil schauen, wo er bleibt. Noch irritierender war jedoch der große Jubel vieler Jusos, sobald der Name Emmanuel fiel. Da wurde gekreischt, geklatscht, Artikel geteilt, Tweets geliked. Macron, hach! Macron, der steht für Aufbruch, für Europa, für die Jugend. Die linke Variante davon war: Mélenchon, ja, der ist toll. Im ersten Wahlgang würde man natürlich ihn wählen, aber sonst natürlich für Macron stimmen, den großen Europäer.

In all diesen Aussagen steckt so viel Blödsinn, so viel blinde Euphorie, dass ich die letzten Wochen fast verrückt geworden bin. Vermutlich fragt sich der*die Ein oder Andere, was ich mir einbilde, hier so rumzupöbeln. Ich sollte lieber froh sein, dass nicht LePen gewählt ist. Zu letzterem kann ich nur sagen: Nochmal den ersten Absatz lesen bitte. Zur ersten Aussage möchte ich hingegen etwas ausholen.
Als ich acht Jahre alt war, hatten wir eine Austauschschülerin aus Paris zu Gast. Pauline war ziemlich schüchtern, konnte kaum Deutsch und sprach auch sonst wenig bis nichts. Als sie eines Abends mit ihren Eltern telefonierte, war es um mich geschehen. Ich verliebte mich Hals über Kopf – oder Ohr über Ohr – in die französische Sprache. Drei Jahre später durfte ich sie endlich in der Schule lernen, mit 14 fuhr ich zum ersten Mal nach Paris, besuchte meine Austauschpartnerin auch danach regelmäßig, ich las die Libération, schaute TV5 Monde, weinte mit Segolène Royal nach der verlorenen Präsidentschaftswahl, machte einen zweiten Austausch und fuhr nach Grenoble, organisierte im Rahmen des P-Seminars eine soirée franҫaise zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages, schrieb schriftliches Abitur in Französisch, belegte Seminare in der Uni über das politische System Frankreichs, das Wahlsystem, die französische Deutschlandpolitik. Ich nehme mir also die Arroganz heraus, zu behaupten, nicht völlig unwissend zu sein, was französische Politik angeht.

Aber von meiner ausgeprägten Frankophilie zurück zu Monsieur le Président.
Macron besuchte ein Elitegymnasium, später die SciencesPo (eine Eliteuniversität und Kaderschmiede für Wirtschaft, Politik und öffentlichen Dienst) und ENA (noch elitärer als die SciencesPo). Er arbeitete für das Finanzministerium, wurde Investmentbanker, wurde Wirtschaftsminister. Eine klassische Karriere in der Classe Politique, der politischen Elite Frankreichs. Während in Deutschland erstmal jede*r einer Partei beitreten kann, und sich durch die Ochsentour – a.k.a. auf Ortsvereinsfesten Würstl grillen – nach oben kämpfen kann, überspringen die Spitzenpolitiker*innen Frankreichs solche Schritte, und finden sich auf den Eliteunis in Paris zusammen, vernetzen sich, bereiten sich gegenseitig den Weg nach oben. Auch Franҫois Hollande besuchte diese Unis, genauso Nicolas Sarkozy. Mit Bildungsgerechtigkeit und Meritokratie hat das erst einmal überhaupt nichts zu tun. Dafür aber umso mehr damit, warum viele Menschen, die nicht die Möglichkeiten haben, diese exklusiven Schulen zu besuchen, sich von den Politiker*innen nicht mehr verstanden fühlen. Macron mobilisierte für diese Stichwahl viele von diesen Menschen. Er schaffte es, ihnen zu vermitteln, dass ihr Leben nicht besser wird, wenn Frankreich aus der EU aussteigt. Das ist erstmal ein Schritt in die richtige Richtung. Man kann jedoch davon ausgehen, dass er sie, so wie seine Vorgänger leider auch, bereits heute schon wieder vergessen haben wird.

Sieht man sich seine Pläne an, scheint es fast so, als würde er sie, das heißt Menschen der Unter- und unteren Mittelschicht, nicht nur vergessen, sondern in eben jene Situation treiben, vor der sie Angst haben, und aufgrund derer sich viele in die sicherheitsversprechenden Arme des Front National treiben lassen. So fordert er beispielsweise die Liberalisierung des Arbeitsrechts. Unternehmen sollen sich demnach von landesweiten Standards lösen können, wenn sie es für angebracht halten, also auch Eingriffe in Löhne oder Arbeitszeiten vornehmen können. Dass die Gewerkschaften deshalb seit Monaten toben, dürfte den meisten von uns klar sein. Es ist mir völlig schleierhaft, wie man das, gerade als Juso, feiern kann.

Hinzu kommt die Einordnung seiner Partei als „weder rechts, noch links“. Wie kann man das als bekennende*r Linke*r, der*die mit aller Kraft und lauter Stimme gegen jede Form von Sexismus, Chauvinismus, Rassismus, Homophobie und vor allem gegen rechts stellt, ernsthaft feiern? Klare Bekenntnisse gegen rechts – dafür stehen wir. Wenn sich aber ein neoliberaler, vertrauenswürdig aussehender (jaja #lookism, aber ihr würdet ihn trotzdem weniger feiern, wenn er weniger schnuckelig aussehen würde), vergleichsweise junger Mann, der ab und zu eine Europaflagge in der Hand hat, nicht von rechts abgrenzen will ist das plötzlich okay? Was zur Hölle?
Natürlich geht es ihm nicht darum, sich rechte Strömungen warm zu halten. Seine Bewegung En Marche soll eben für alle sein. Mindestens klare Statements, die sich klar von politischen Extremen distanzieren, sollten aber unser Anspruch sein, bevor wir jemanden feiern und jeden Spiegel Online-Artikel über ihn*sie liken.

Macron möchte Reformen durchführen, die Frankreich auch dringend nötig hat. Die Arbeitslosigkeit hat sich bei ca. 10% eingependelt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt seit Jahren zwischen 20 – 25%. Jeder vierte bis fünfte Mensch zwischen 15 und 24 Jahren hat keinen Job, keine Ausbildung, keine Perspektive. Für viele von uns ist das unvorstellbar. Es muss sich also etwas ändern auf der linken (und damit doch der guten *badummtss*) Seite des Rheins. Für viele Französ*innen fungiert Deutschland als Vorbild. Wer sich mit jungen Sozialist*innen der MJS (Mouvement des jeunes socialistes) unterhält, hört nicht selten irritierend positive Aussagen über die letzten Reformen in Deutschland. Für die Jüngeren unter uns: Sie meinen die Agenda 2010. Diese hätte schließlich Deutschland wieder auf die Beine geholfen.
Während im durchschnittlichen Juso-Hirn jetzt das Gegenargumentekarussel Fahrt aufnimmt, lässt sich festhalten, dass Macron in genau diese Richtung marche-ieren will.
Die Agenda 2010 in Deutschland halten die meisten Jusos für ein Reformpaket, das prekäre Arbeitsverhältnisse verschlimmert und Menschen in die Armut und/oder Langzeitarbeitslosigkeit getrieben hat. Ein bislang eher unbekannter Franzose, der sich an dem von vielen von uns so verhassten „third way“ eines Tony Blairs oder Gerhard Schröders orientieren will, ist aber okay? Was zur Hölle?

Es lässt sich auch festhalten, dass viele Analysen davon ausgehen, dass manch eine Entwicklung im Rahmen oder nach der Agenda 2010 für den spürbaren Rechtsruck in Deutschland mitverantwortlich ist. Kann ein Land, das gerade erst eine Rechtspopulistin in eine Präsidentschaftsstichwahl geschickt hat, wirklich verkraften, Menschen noch mehr Sicherheiten im Arbeitsleben zu entziehen?

Die Wahl gestern hat uns fünf Jahre Zeit gekauft. Lasst uns unsere Genoss*innen der Parti Socialiste unterstützen, ihre geschichtsträchtige Partei wieder links aufzustellen und die Überbleibsel der vergangenen Hollande-Jahre abzuschütteln. Lasst uns weiterhin den Kampf gegen rechts führen, ohne einen Fußbreit zurückzuweichen. Und auch, wenn nun eben „das kleinere Übel“ im Élyséepalast residiert: Lasst uns – egal, was passiert – die deutsch-französische Freundschaft feiern!