Wo ist die Menschlichkeit?
Als ich heute morgen das Morgenmagazin eingeschaltet habe, war das erste, was ich gehört habe: „eine Lösung ist in der Asylpolitik gerade nicht abzusehen, aber jetzt geht’s erstmal in die Sommerpause.“ Meinen Kaffee zum Wachwerden brauchte ich da nicht mehr, das hat das Adrenalin erledigt.
Aber beginnen wir von vorne. Kurz und knapp, ihr kennt den Inhalt vermutlich sowieso. Neu entbrannt ist das Thema durch den Asylstreit der Union. Hier hat die CSU mit ihrem Gepoltere nicht nur die Unionsgemeinschaft aufs Spiel gesetzt, sondern auch die deutsche Regierung und massiv gegen Europa geschossen. Angela Merkel hat sich mit den Regierungschef:innen Europas getroffen, um einen Kompromiss auszuhandeln, mit dem auch die CSU einverstanden sein kann. Letztendlich gab es einen Unionskompromiss, den die SPD wiederum ablehnte. Stattdessen tagte der Koalitionsausschuss, um sich auf Forderungen zu einigen, die allesamt im Koalitionsvertrag stehen. Jetzt könnte man meinen: Das passt doch. Aber weit gefehlt.
Das schlimmste ist fürs erste verhindert, #CSU hat keine einzige Kernforderung nach Hause gebracht. Dafür ehrliches Danke! Aber gewonnen ist noch nichts. Grundprobleme bleiben offen: Fluchtursachen, Massensterben, Rechtsruck. Da gehen wir @Jusos jetzt ran.
— Kevin Kühnert (@KuehniKev) July 5, 2018
Ich bin froh, dass die SPD Haltung gezeigt hat und es geschafft hat, dass die CSU keine ihrer unsäglichen Punkte durchsetzen konnte. Aber die Verteidigung des Status Quo sollte nicht der Anspruch progressiver und, vor allem in der Flüchtlingspolitik, auch menschlicher Politik sein. In der Einigung aus dem Koalitionsausschuss steht auch, die Regierung wolle FRONTEX stärken und Außengrenzen besser schützen. Das wollen auch die EU-Staaten. Was heißt das nun aber?
Sicherung der Außengrenzen
Beginnen wir mit der Sicherung der Außengrenzen. Die Europäische Union schützt ihre Außengrenzen entweder durch Zäune, wie in Ungarn, oder durch Deals mit Machthabern wie Erdogan in der Türkei oder Mahamadou Issoufou im Niger. Entwicklungszusammenarbeit soll vor allem mit sogenannte Transitländer stattfinden, also in Ländern, die auf Fluchtrouten liegen. Ob diese Länder Menschenrechte achten oder nicht, ist hierbei sekundär – Flüchtlinge aufzuhalten, bevor sie zum Mittelmeer kommen scheint das einzige Ziel zu sein. Hierbei arbeitet die Europäische Union auch mit Omar al-Bashir, dem wegen Völkermordes angeklagten Präsidenten des Sudan, oder Isaias Afwerki, der seit 1993 Chef der amtierenden „Übergangsregierung“ Eritreas ist – ohne Opposition. Um die Fluchtrouten zu schließen, gibt es Geld, Ausbildung der Soldat:innen und Technik.[1]
Das hält Menschen aber nicht davon ab, vor Krieg, Hunger und Perspektivlosigkeit zu fliehen. Durch die Maßnahmen der EU wird diese Flucht aber gefährlicher. Die Internationalen Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass in der Ténéré-Wüste im westafrikanischen Staat Niger ungefähr drei Mal so viele Menschen sterben wie im Mittelmeer. Da die Checkpoints auf den sicheren Routen geschlossen wurden, weichen die Schleuser in die Wüste aus.[2] Niemand kann genau sagen, wie viele Tote dort mittlerweile liegen.
Internationale Journalist:innenteams werden häufig mit dem Verweis, es sei zu gefährlich nicht in die Wüste vorgelassen. Auch die Camps in Libyen sind für Journalist:innen gesperrt. Misshandlungen, Vergewaltigungen und menschenunwürdige Bedingungen sind hier an der Tagesordnung. [3] „Dort herrschten entsetzliche Zustände, kritisierte er [der UN-Sprecher]. In diesen Lagern seien auch Tausende von Menschen untergebracht, die nach Einschätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks Anrecht auf Asyl oder zumindest internationalen Schutz haben.“ [4] Hauptsache niemand sieht das Elend der Menschen. Hauptsache, die Menschen kommen nicht nach Europa.
FRONTEX stärken
Aufgrund der aktuellen Situation im Mittelmeer hat für mich der Ausbau von FRONTEX einen enorm bitteren Beigeschmack. Im letzten Monat sind so viele Menschen ertrunken wie noch nie, weil man die Menschen, die nicht zusehen können und helfen, kriminalisiert und an ihrer Arbeit hindert. Dieses Jahr wurden 40% der Rettungseinsätze durch private Helfer durchgeführt. Das Verbot der NGO-Aufklärungsflugzeuge, die nach in Seenot geratenen Schiffen suchen, zeigt doch wieder einmal, dass man einfach wegschauen will. [5]
EIL: Heute über 100 Tote auf dem Mittelmeer, keine zivilen Rettungsschiffe. Ich kenne die Namen der Toten nicht, aber ich kenne die Namen derer, die die Seenotretter diffamieren, festsetzen oder anklagen. Seehofer, Salvini, Muscat u.a.: Eure Politik tötet! #lifeline #EUGipfel pic.twitter.com/MyUODA5GiO
— Erik Marquardt (@ErikMarquardt) June 29, 2018
Die EU will hier verstärkt mit der sogenannten Libyschen Küstenwache zusammenarbeiten. Niemand weiß genau, welchem Machthaber die Einheiten unterstehen. Diese bekommen schon länger Geld und Ausrüstung durch die Europäische Union. Seit 2016 weitete die EU das Mandat auf die Ausbildung der Küstenwache und Marine aus. Immer wieder gibt es allerdings Nachrichten über Attacken auf Flüchtlingsretter:innen und Einsätze, die für die Flüchtlinge tödlich enden.
Franziska Vilmar, Amnesty International: „Bei den Seenotrettungseinsätzen hat die Libysche Küstenwache sehr rabiat gehandelt. Wir haben immer wieder festgestellt, dass Menschen dabei selbst gefährdet worden sind, dass sie teilweise auch ihr Leben verloren haben, aber dass sie, sobald sie an Bord waren, auch geschlagen worden sind und unter Waffengewalt zurückgebracht worden sind in die libyschen Lager.“ [6]
Trotzdem möchte die Europäische Union noch mehr auf die libyschen Küstenwächter:innen setzen, es soll dort eine eigene Leitstelle entstehen. Die Küstenwache gilt als zutiefst korrupt. Immer wieder wird ihnen Zusammenarbeit mit den Schleuser:innen vorgeworfen. Erst letzten Monat wurde Abd Al Rahman al-Milad, Leiter der Küstenwache in Zawiyah[7], auf die UN-Sanktionsliste gesetzt. Ihm wird Menschenschmuggel und die mutwillige Versenkung eines Flüchtlingsbootes mit Schusswaffen vorgeworfen. Ich glaube nicht, dass wir, die uns für Menschlichkeit und Demokratie feiern, mit solchen Organisationen zusammenarbeiten dürfen.
Und nun?
Der deutsche Kapitän des Rettungsschiffes #Lifeline, ist auf #Malta gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Der 57-Jährige dürfe das Land aber nicht verlassen. pic.twitter.com/8ynZL5Tguc
— ZDF heute (@ZDFheute) July 2, 2018
Seehofer will mit Orban und Kurz einen Plan erstellen, wie man die Mittelmeerroute schließt. Davon wird mir schlecht und das macht mir Angst. Wie sowas aussehen kann, erleben wir jetzt grade. Die europäischen Häfen machen für die Boote freiwilliger Hilfsorganisationen dicht. In Malta steht der Kapitän des Lifeline vor Gericht, nachdem sie eine Woche lang mit 234 Menschen an Bord durch das Mittelmeer gefahren sind und kein Land sie anlegen lassen wollte.
Das ist nicht mein Europa. Ich habe nach wie vor die Vision eines offenen und solidarischen Europas. Solidarisch nicht nur untereinander (wobei selbst das gerade fragwürdig ist), sondern auch mit anderen Ländern dieser Erde und vor allem solidarisch mit Menschen. Wir brauchen legale Fluchtkorridore, damit Menschen nicht gezwungen werden illegale und gefährliche Wege zu gehen. Sebastian Kurz, der österreichische Kanzler, der nun ein halbes Jahr lang den EU-Ratsvorsitz hat, stellt in Frage, ob “alle 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, wirklich automatisch das Recht haben, dass sie einen Asylantrag in Europa stellen können, oder ob sie den nicht auch anderswo auf der Welt stellen könnten.” Er sprach sich dagegen aus, dass in den von der EU geplanten Aufnahmezentren die Möglichkeit geschaffen wird, Asylanträge zu stellen. Breaking News: Ja, alle Menschen haben erst einmal das Recht einen Asylantrag zu stellen.
Unser Ansatz darf aber nicht sein, den Menschen ihre zustehenden Rechtsmöglichkeiten zu nehmen, sondern ihnen keinen Grund zur Flucht zu geben. Niemand setzt sich aus Spaß in ein überfülltes Schlauchboot. Die Menschen sind sich bewusst, dass sie bei dieser Überfahrt sterben können, trotzdem machen sie sich lieber auf den Weg. Fluchtursachen bekämpft man nicht, indem man Grenzen hermetisch abzuriegeln versucht. Fluchtursachen bekämpft man, indem man aufhört Waffen in Krisengebiete zu schicken, indem man aufhört dubiose Machthaber:innen zu unterstützen und indem man aufhört andere Länder zu unseren Gunsten auszubeuten. Falls ihr euch fragt, wie das geht, verweise ich an dieser Stelle auf einen Blogbeitrag aus dem Jahr 2016, der nach wie vor aktuell ist:
Was tun?
Mein Appell? Hört auf mit Menschenleben Politik zu machen! Mir ist vollkommen egal woher Menschen kommen, wenn sie Hilfe brauchen, dann muss man helfen.
Was ist das eigentlich für eine kranke Ironie, dass sich zwei Komiker/Satiriker für Seenotrettung und gegen Kriminalisierung von Retter*innen stark machen müssen, weil die Komiker*innen der Bundesregierung damit beschäftigt sind, Grenzen dicht zu machen. #lifeline #civilfleet
— Antreh (@nnamrreherdna) July 8, 2018
Wir spielen uns auf als das wunderbare, friedliche Europa und vor unseren Türen ist ein Massengrab. Helft, spendet, schreibt euren Abgeordneten und zeigt ihnen, dass wir vor diesem Sterben nicht die Augen verschließen wollen!
- Lasst die Menschen, die tagtäglich im Mittelmeer ertrinken und in den Wüsten sterben nicht aus dem Fokus geraten. Schreibt darüber, packt es in eure Instagram-Stories, redet mit Menschen. Wir dürfen nicht wegschauen!
- Spenden könnt ihr beispielsweise an das Projekt #civilfleet, die Schiffe chartern wollen, die ersatzweise für die festgesetzen Rettungsboote Menschen vor dem ertrinken retten wollen: https://www.leetchi.com/c/civilfleet
- Auf der Seite des Deutschen Bundestages könnt ihr unter https://www.bundestag.de/abgeordnete/ einfach eure Postleitzahl eingeben und findet so die für euch zuständigen Abgeordneten. Schreibt ihnen Mails und appelliert an sie das Sterben zu beenden. Die Europaabgeordneten findet ihr hier nach Bundesländern sortiert: http://www.europarl.europa.eu/germany/de/die-eu-und-ihre-stimme/die-deutschen-europa-abgeordneten-nach-bundesländern
Wenn andere es schon nicht machen, lasst uns ein Zeichen für Menschlichkeit setzen. Lasst uns das Europa sein, das wir wollen. Das schaffen wir nicht durch wegschauen oder meckern, das schaffen wir nur, wenn wir zusammen anpacken.
[1]http://www.fr.de/politik/flucht-zuwanderung/fluechtlinge-aus-afrika-eu-deals-mit-afrikas-diktatoren-a-356517
[2]https://www.tagesschau.de/ausland/niger-fluechtlingsroute-101.html
[3]https://youtu.be/BqA2uhfYEfE
[4]https://www.tagesschau.de/ausland/papst-migrationspolitik-101.html
[5]https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-mittelmeer-251.html
[6]https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/toedliche-seenotrettung-100.html
[7]https://www.maritime-executive.com/article/un-blacklists-libyan-coast-guard-leader-for-migrant-smuggling#gs.kHdB=3w