Gerade machen Bund und Länder Schlagzeilen mit weitreichenden Corona-Lockerungen. Brandenburg und Berlin kehren zur Präsenzpflicht zurück, in Baden-Württemberg werden sogar Überlegungen laut, die Maskenpflicht an Schulen zu beenden. An bayerischen Schulen zeigt sich aber ein anderes, ein widersprüchliches Bild. Von Lockerungen ist hier noch nichts zu hören, was auch daran liegen kann, dass Bayern noch immer das Bundesland mit der höchsten 7-Tage-Inzidenz ist, näher an der 2.000er-Marke als an der 1.000er.

Zunächst zur Ausgangslage, die ist in Bayern, wie in den meisten anderen Bundesländern personell angespannt. Während die Kultusministerien davon ausgehen, dass bis 2030 etwa 14.000 Lehrkräfte und Pädagog*innen fehlen, die im Januar veröffentliche und vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegebene Studie rechnet eher mit 81.000 fehlenden Lehrer*innen. Die Zahl der Kultusministerien wirkt im Vergleich dazu fasst schon unseriös. Auf der einen Seite steigt der Personalbedarf mit dem Ausbau der Ganztagsschulen, höheren Anforderungen an Inklusion und Förderung und weiteren Maßnahmen. Andererseits lässt sich weder durch politische Maßnahmen noch durch die Zahl der Studierenden die Annahme rechtfertigen, das Angebot an Lehrkräften könnte diesen erhöhten Bedarf irgendwie decken. 

An dieser Stelle kommt die aktuelle Pandemielage ins Spiel. Lehrkräfte fallen aus, sind überarbeitet, überfordert. Schwangere dürfen seit Beginn der Pandemie Schulen nicht während des Unterrichtsbetriebs betreten, im letzten Jahr zählten hierzu etwa zwei Prozent der Lehrer*innen. Um das Problem der Schwangeren, die nicht vor Ort arbeiten können, zu lösen wurde in Bayern das Konzept der Teamlehrkräfte eingeführt, etwa 800 Stellen. Es handelt sich oft um Studierende oder andere nicht komplett ausgebildete Pädagog*innen, die im Hintergrund theoretisch von den Stammlehrkräften unterstützt werden. Theoretisch weil längst nicht jede Teamlehrkraft auch im Team arbeitet, bei manchen viel im Laufe des Schuljahres die Stammlehrkraft weg. Bei anderen war von Anfang an niemand vorhanden. Die Teamlehrkräfte sind also eine Art Mogelpackung, wie der Anschein gewahrt werden kann.

Während viele Lehrkräfte krankheitsbedingt ausfallen, ist der Rest damit beschäftig immer wieder kurzfristige Hygienemaßnahmen umzusetzen und den Eltern, bei denen mittlerweile auch oft ein gewisser Unwille zu spüren ist, nahezubringen. Neben dem Testregime mit Pooltestungen und Schnelltests müssen die Schulen auch Kontakt zu überlasteten Gesundheitsämtern halten. Gemeinsam mit dem Schulamt müssen die Schulen entscheiden, ob Klassen in den Distanzunterricht gehen müssen, wenn ein schulisches Infektionsgeschehen nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Seit Anfang Februar sind nach Beschluss des bayerischen Kultusministers Klassen nur noch in Distanz zu schicken, wenn mindestens die Hälfte der Klasse aktuell mit Corona infiziert ist. Eine Schwelle so hoch, dass eine Infektion innerhalb der Klasse eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist. Bis Anfang Februar mussten noch die Gesundheitsämter Klassen in Distanz schicken, per Verordnung, sobald sich innerhalb von fünf Tagen mindestens vier Kinder infiziert haben. In der Realität wurde mit dieser Regelung aber so lasch umgegangen, dass die Zahl der Klassen, die dann auch tatsächlich im Distanzunterricht beschult wurden, wahrscheinlich weit in der Unterzahl sind, gegenüber den Klassen, die weiter an der Schule blieben, weil das Gesundheitsamt den letzten Schritt nicht gegangen ist. Ein weiterer Punkt an dem mit der Gesundheit von Schüler*innen, Lehrkräften und Angehörigen eher fahrlässig umgegangen wurde.

Grundsätzlich ist natürlich zu begrüßen, dass Kinder so lange wie möglich in den Schulen unterrichtet werden sollen. Was der lange Distanzunterricht der letzten beiden Jahre bei Kindern beispielsweise im Bereich der sozialen Regeln nicht leisten konnte ist offensichtlich. Trotzdem irritiert, wie leichtfertig hier seitens der Verantwortlichen agiert wurde und wird. Die Inzidenzen bei Schüler*innen steigt aber gleichzeitig seit Januar ins maßlose, in einzelnen bayerischen Landkreisen sind in der Altersgruppe Inzidenzen im fünfstelligen Bereich zu beobachten. Ein überzeugendes Konzept fehlt weiter. Während Kinder also im Sport- und Musikunterricht mit Maske teilnehmen müssen und auf Singen oder Sport in der Sporthalle, wenn möglich verzichtet werden soll, wird allerorts gelockert.

Müsste eine Beschreibung für die Coronastrategie an bayerischen Schulen gefunden werden würde sie aktuell wohl „Durchseuchung“ lauten. Kinder bleiben unter strengsten Maßnahmen in der Schule, auch wenn täglich neue Fälle in der Klasse auftreten, solange nur die magische Marke von 50% nicht gerissen wird, die irgendwie den Schutz der Schüler*innen gewährleisten soll. Aber da eine Corona-Erkrankung bei den allermeisten Kindern ja zu nicht viel mehr Symptomen als bei einer Erkältung oder Grippe führt ist das wohl vertretbar. Von den erwachsenen Lehrkräften, die sich sehr wohl, wie übrigens ein kleiner Prozentsatz der Kinder, ernsthaft und mit langfristigen Folgen erkranken können soll gar nicht erst die Rede sein, sie sind Kollateralschäden auf dem Weg zur völligen Durchseuchung an den Schulen. Die Interessen der Kinder werden wie gewöhnlich hinten angestellt. Wie belastend die Angst sich anzustecken auch bei Kindern ist wird ignoriert, ihnen fehlt die Lobby. Unzufriedene Erwachsene protestieren als Querdenker*innen lautstark gegen jegliche Maßnahmen und schaffen es so ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Gelichzeitig haben sich die meisten Kinder geduldig mit der Situation abgefunden, halten sich gewissenhaft an die AHA+L-Regeln, machen wöchentlich zahlreiche Tests mit. Das die Interessen der Kinder aber nur kaum in politische Entscheidungen einfließen und ihre Situation endlich verbessern verwundert kaum. Denn den Kindern fehlt nicht nur das Gehör der Politik, sondern auch das drohende Gewicht einer Stimme bei den nächsten Wahlen.

Mit dem sog. Grundeinkommensjahr präsentiert die Parteiführung der SPD, allen voran deren Generalsekretär Lars Klingbeil, einen Vorschlag, der zur Antwort auf die Veränderung des Arbeitslebens erklärt wird. Im Wesentlichen soll durch Erwerbsarbeit im Umfang von sechs bis zwölf Jahren der Anspruch auf ein Grundeinkommen in Höhe von 1000 EUR pro Monat für sechs bis zwölf Monate, je nach Anwartschaftszeit, erworben werden. Im Rahmen dieser bezahlten Auszeit sollen Arbeiter*innen sich erholen, sich weiterbilden, neu orientieren oder die Selbstständigkeit vorbereiten.

Die grundsätzliche Idee ist keine schlechte, und sie passt gut in unsere heutige Zeit: Bestand in den 60ern die Errungenschaft der Industrie noch darin, immer größere Stückzahlen zu günstigeren Preisen zu produzieren, so ist die große Innovation des 21. Jahrhunderts das Maßschneidern von Produkten auf Einzelbedürfnisse von Konsument*innen. In der Konsequenz stiegen und steigen Qualifikationsanforderungen an Arbeiter*innen, welche komplexere und individuellere Güter produzieren, stetig an. Folglich spielt Qualifikation und Weiterqualifizierung eine immer wichtigere Rolle.

In diesem Zeitalter der individualisierten Güter haben sich, während die Politik eine eher beobachtende Rolle einnahm, Arbeiter*innen längst angepasst: Immer mehr Menschen erlangen das Abitur, weil sie wissen, dass die Arbeitswelt hohes Wissen erfordert, und auch die Zahl der Studierenden nimmt stetig zu. Gleichzeitig steigt unbezahlte Mehrarbeit durch das Eindringen der beruflichen Tätigkeit in die Freizeitgestaltung von Arbeiter*innen und stete Erreichbarkeit. Ergebnis dieses Vereinnahmen der Freizeit durch die Arbeit ist auch der junge Tarifabschluss der IG Metall, welcher Arbeiter*innen mehr Selbstbestimmung über ihre Zeit einräumt. Überhaupt rückt das Thema Arbeitszeitreduktion stärker in den Mittelpunkt von Arbeitsmarktdebatten, anstelle von Lohnerhöhungen.

Während sich also Arbeiter*innen im Bildungs- und Ausbildungssystem anpassten, und gemeinsam mit den Gewerkschaften Anpassungen im Arbeitsalltag erzwangen, blieb der politische Rahmen trotz der geänderten Wünsche und Anforderungen vonseiten der Arbeitgeber*innen wie der Arbeitnehmer*innen nahezu konstant, wenn man Irrwege wie die Etablierung des achtstufigen Gymnasiums (im Übrigen genau die falsche Antwort auf gestiegene Qualifikationsanforderungen, wie sich später herausstellte; die Bologna-Reform schlägt in eine ähnliche Kerbe) außer Acht lässt. Umso wichtiger ist es daher, zu sehen, dass sich die politischen Kräfte nun um eine Reform der Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse bemühen.

Dabei schlägt das Grundeinkommensjahr (sofern es denn ein Jahr ist) in die richtige Kerbe: Mehr Freiraum für Selbstverwirklichung, damit auch Arbeiter*innen von den Produktivitätszuwächsen der Digitalisierung profitieren können, ist grundsätzlich die richtige Antwort auf eine geänderte und sich stetig ändernde Arbeitswelt. Dennoch ist der Vorschlag in seiner Ausgestaltung fragwürdig und kann nur Teil einer umfassenden Reform des Arbeitsmarkts, des Ausbildungssystems und der Bildung sein.

In sechs bis zwölf Monaten Auszeit lassen sich weder Ausbildung noch Studium absolvieren, vielmehr taugt der Rahmen für Weltreise, Urlaub und ähnliche Aktivitäten des gepflegten Mittelstands. Die soziale Unterschicht, die Weiterqualifizierung gerade am nötigsten hat, kann weder auf ein geregeltes Einkommen auf Mindestlohnniveau, noch auf die damit einher gehenden Rentenpunkte, verzichten. Damit zielt das Grundeinkommensjahr an denen vorbei, die es am dringendsten brauchen.

Nötig wäre vielmehr ein Bildungskonzept, welches sich weg vom starren Korsett des dreigliedrigen Schulsystems bewegt und Alternativen zum Frontalunterricht und zum Binge-learning bietet, beispielsweise durch ein Gesamtschulkonzept mit hohem Betreuungsmaß, Förderung individueller Stärken und der Garantie eines Wissensstands, der deutlich oberhalb des gegenwärtigen Mittelschulniveaus liegt. Nötig wäre zudem ein attraktiveres Ausbildungssystem, mit besserer Bezahlung, Qualitätssicherung und Kontrolle. Nötig wäre auch eine Novelle der Weiterqualifizierungsmaßnahmen aus den Sozialgesetzbüchern, sodass diese als Chance verstanden werden können, und nicht länger als Bestrafung für undisziplinierte Arbeitslose. Nötig wäre weiterhin die Sicherung gerechter Löhne, die es von sich aus erlauben, eine Auszeit zu nehmen oder die Arbeitszeit zu reduzieren, ohne gleich um die eigene Existenz bangen zu müssen. Und schließlich wäre auch eine Diskussion um eine flächendeckende Arbeitszeitsenkung notwendig, die steigende Pendelzeiten, unbezahlte Mehrarbeit zuhause und intensivere Arbeit durch gestiegene Qualifikationsanforderungen berücksichtigt und Beschäftigte entlastet. Ein solches Reformpaket mag dann gerne ein bedingungsloses Grundeinkommensjahr enthalten. Es wird darin aber eine untergeordnete Rolle spielen, sofern man den Aufgaben unserer Zeit gewachsen sein möchte.

 

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2017, die über einen Zeitraum von fünf Jahren in Zusammenarbeit mit dem IAB entstanden ist, zeigt, dass 21 Prozent aller Kinder in Deutschland dauerhaft oder wiederkehrend in Armut leben. Hinzukommen 9,9 Prozent, welche temporär einer Armutslage ausgesetzt sind. Für ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt 2017 3.263,35 Mrd. € betrug und das sich durch eine Arbeitslosenzahl von nur 3,5 Prozent (Stand Februar 2018) auszeichnet, eine schockierende Tatsache.

Doch was heißt Armut in einem reichen Land überhaupt? Kinderarmut bedeutet, dass das betroffene Kind in einer Familie aufwächst, die von einem Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle lebt, also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, und/oder die SGB-II-Leistungen bezieht. Konkret bedeutet das für die Alltagserfahrung der Kinder, dass auf viele Dinge oder auch Aktivitäten, die für Gleichaltrige völlig normal und selbstverständlich sind, verzichtet werden muss. Sie können keinen Sport im Verein betreiben, da das Geld für Mitgliedsbeiträge oder Ausrüstung fehlt. Die Teilnahme an Schulausflügen bleibt ihnen verwehrt, da auch hierfür kein Geld da ist. Sie haben keinen Raum als Rückzugsort oder einen Schreibtisch, wo sie in Ruhe ihre Hausaufgaben erledigen können. Und auch das Kaufen von neuer Kleidung, wie einer Regenjacke oder neuen Winterschuhen, ist oftmals nicht möglich. Die existenzielle Grundversorgung, also ein Heim und Nahrungsmittel, ist in den meisten Fällen gesichert. Jedoch können auch in diesem Bereich die Standards von Gleichaltrigen, wie beispielsweise ein eigenes Zimmer oder eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung, nicht eingehalten werden. Besondern betroffen hiervon sind Kinder von Alleinerziehenden, von denen in Deutschland 90 Prozent Frauen sind. (Mehr dazu hier: www.bpb.de/apuz/252655/armutsrisiko-alleinerziehend?p=all)

Kinder und Jugendliche, die in den oben beschriebenen Verhältnissen aufwachsen, haben oft mit verheerenden Folgen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu kämpfen. Ausgrenzung durch Gleichaltrige, insbesondere in der Schule, ist dabei nur eine von vielen Konsequenzen. Vor allem die Bereiche Gesundheit und Bildung sind betroffen. Chronischen Krankheiten, wie zum Beispiel Asthma, treten bei Kindern, die in armen Verhältnissen aufwachsen, viel häufiger auf als bei Gleichaltrigen. Medikamente gegen derartige chronischen Erkrankungen, die notwendig aber nicht verschreibungspflichtig sind, müssen selbst bezahlt werden, sobald die Kinder das zwölfte Lebensjahr vollendet haben. Das führt dazu, dass aus Geldmangel oftmals keine richtige Behandlung möglich ist. Weitere gesundheitliche Risikofaktoren stellen eine falsche Ernährung und ein Mangel an Bewegung dar. Auch im Bereich der schulischen Bildung kann klar festgestellt werden, dass Kinder die in armen Verhältnissen aufwachsen, wenigere Erfolge für sich verbuchen können, als ihre Mitschüler*innen. Sie fallen häufiger durch, haben schlechtere Noten und erreichen insgesamt niedrigere Schulabschlüsse. Hinzukommt, dass die Kinder die Sorgen ihrer Eltern durchaus begreifen und sich bereits in sehr jungen Jahren mit Geldnöten und Existenzängsten beschäftigen. Diese zusätzliche seelische Belastung hinterlässt ihre Spuren, in vielen Fällen irreparabel.

Doch was kann dagegen getan werden? Ein erster wichtiger und insbesondere symbolischer Schritt wäre es, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Außerdem braucht es eine Kindergrundsicherung, in welcher alle kindsbezogenen Leistungen zusammengefasst sind. Es muss gewährleistet werden, dass Kinder und Jugendlichen sich unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern entfalten und entwickeln können. Dann kann sich auch der Wert unserer Gesellschaft wieder steigern.

 

Reportage zum Thema: www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=68546

Ganze Studie kostenlos als Download: www.bertelsmann-stiftung.de/es/publikationen/publikation/did/armutsmuster-in-kindheit-und-jugend/