Vom Rauchen, der Geldpolitk, Parteivorständen und der Zeitinkonsistenz
Mit dem Rauchen aufzuhören ist einer der vielen Vorsätze, die einfach gefasst sind, aber häufig nicht eingehalten werden. So ist der Entschluss, zu einem gewissen Zeitpunkt das Rauchen sein zu lassen – gerne zum Jahreswechsel – leicht gefasst. Das Rauchen aufhören lässt sich auch gut begründen, schließlich locken langfristig bessere Gesundheit, mehr übriges Geld und längere Lebenserwartung. Trotzdem scheitert die Mehrzahl der Versuche, indem kurzfristig, wenn es zum Rauchstopp kommt, vom initial gefassten Entschluss abgewichen wird. Der Raucher, oder die Raucherin, raucht weiter, verschenkt damit die langfristigen Vorteile und verhält sich – wenn man so will – aus einer Langfristperspektive irrational. In der Verhaltensökonomie wird das kurzfristige Abweichen von einer Langfriststrategie daher zeitinkonsistentes Verhalten genannt. Dies beschreibt ein Muster, in dem zu einem Anfangszeitpunkt eine Handlung, in unserem Beispiel an Neujahr mit dem Rauchen aufzuhören, für eine handelnde Person optimal ist, in unserem Beispiel also die Vorteile des Nichtrauchens den Nachteilen überwiegen. Zum Zeitpunkt der Handlung, in unserem Beispiel also zum Jahreswechsel, hat das Individuum allerdings Anreize, von der vorher gefassten Entscheidung abzuweichen, also weiter zu rauchen. Der Grund hierfür ist, dass kurzfristiger Nutzen stärker geschätzt wird als langfristige Gesundheit, was in der Konsequenz zum rationalen Abweichen von der Langfriststrategie führt. Ab dem ersten Januar ist es für unser rauchendes Individuum dann wieder optimal, sich zum Neujahr das Aufhören vorzunehmen, um dort wieder damit zu brechen.
Die logische Konsequenz aus zeitinkonsistentem Verhalten ist, dass die betroffenen Akteure an Glaubwürdigkeit einbüßen. Nicht zuletzt deshalb wird auch die Ankündigung, mit dem Rauchen aufzuhören, häufig vom Freundeskreis belächelt. Für den Einzelnen mag das nicht weiter tragisch sein, für Institutionen kann der Verlust von Glaubwürdigkeit allerdings große Schwierigkeiten bedeuten. Für Zentralbanken beispielsweise ist Glaubwürdigkeit von enormer Bedeutung: Glauben Marktteilnehmer*innen nicht mehr an die Ankündigungen der Zentralbanken, so kann es zu Chaos auf den Märkten kommen, wie diverse Bank Runs der Geschichte gezeigt haben. Darin liegt im Übrigen auch die Ursache der Merkel-Steinbrück-Erklärung („Die Spareinlagen sind sicher“) während der Finanzkrise: Hätte man ihnen nicht geglaubt, so wäre ein Bank Run die logische Konsequenz gewesen. Entsprechend ist es für die Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen von Seiten der Zentralbank zunächst weniger erheblich, ob sie funktionieren, und wesentlich erheblicher, ob die Akteure der betreffenden Volkswirtschaft von der Wirksamkeit überzeugt sind. Das begründet die Wichtigkeit der Glaubwürdigkeit von Zentralbanken.
Nun ist zeitinkonsistentes Verhalten nicht alleine Problem der Raucher*innen, sondern war auch lange in der Geldpolitik zu finden: Lag die geldpolitische Hoheit bei der Regierung, so war es zwar langfristig optimal, die Geldmenge zu kontrollieren und große Preiszuwächse zu vermeiden, gleichzeitig wurde oft kurzfristig davon abgewichen und Geld gedruckt, um den Staatskonsum (häufig für Militär) zu finanzieren. Damit wurde nicht nur der Wirtschaft geschadet, sondern auch der Glaube in die Währung verspielt: Durch den enormen Anstieg der Geldmenge kam es zu Hyperinflationen, die Spareinlagen entwerteten und die Wirtschaft brach zusammen. Um den Handel mit Alternativwährungen zu unterbinden und wieder langfristiges Wachstum zu ermöglichen, entschloss man sich daher später, die geldpolitische Autonomie an eine Zentralbank abzutreten, um den Glauben in die Stabilität der Währung wiederherzustellen. Damit war gleichzeitig auch der Anreiz, sich zeitinkonsistent zu verhalten, eliminiert – der EZB ist es beispielsweise verboten, Staatskonsum zu finanzieren. Die Abtretung von Kompetenzen, sei es durch Regeln, Gesetze oder Schaffung von Institutionen, kann also zeitinkonsistentes Verhalten verhindern und somit das Erreichen der langfristig optimalen Handlungsstrategie sicherstellen.
Der Parteivorstand der SPD steht gerade vor einem ähnlichen Dilemma: Im Lichte der Wahlergebnisse der Bundestagswahl, die für die SPD eine krachende Niederlage bedeuteten, entschloss man sich, nicht in die Regierung einzutreten. Einstimmig beschloss der Bundesvorstand in der Konsequenz, dass die Sozialdemokratie für eine Koalition mit der Union nicht zur Verfügung stünde. Der Parteivorstand wusste, dass der Eintritt in eine weitere große Koalition zu weiteren Stimmenverlusten bei künftigen Wahlen führen würde, und er wusste, dass alleine in der Opposition ein Erneuerungsprozess in der Partei passieren könnte, der künftig wieder bessere Ergebnisse ermöglichen würde. Aus einer Langfristperspektive war der Gang in die Opposition also die richtige Entscheidung. Mit dem Scheitern von Jamaika stand der Bundesvorstand der SPD schließlich an dem Punkt, an dem er zur Handlung verpflichtet war. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung entschloss dieser sich allerdings zur Aufnahme von Sondierungs- und anschließend von Koalitionsgesprächen. Das zeitinkonsistente Verhalten der SPD lässt sich dabei begründen: Mit dem Scheitern von Jamaika ergab sich einerseits die Möglichkeit, Ministerien zu besetzen und politische Forderungen umzusetzen. Andererseits erhöhte das Scheitern Jamaikas die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen, was zu erneuten Listenreihungen für Bundestagskandidat*innen, und damit zur Unsicherheit über die politische Zukunft von Abgeordneten, geführt hätte. Konsequenterweise war es für den Bundesvorstand rational, auf Basis kurzfristiger Präferenzen von der langfristig optimalen Strategie, also der Erneuerung der Partei in der Opposition, abzuweichen und für den Eintritt in die Regierung zu werben. Dabei wäre ein Festhalten an der langfristig optimalen Strategie, analog zum Fall des Rauchens oder der Geldpolitik, für die Partei der sinnvollere Weg. Einerseits führt der Gang in die Regierung zu einem Teufelskreis ähnlich dem des Rauchens: Nach vier Jahren wird die Partei bei einer weiteren Bundestagswahl abgestraft, eine Koalition mit der Union wird ausgeschlossen, vom initialen Ausschluss wird abgewichen, es kommt zur Koalition. Schließlich ändert sich an den Langfristargumenten wider der großen Koalition nichts, wie sich auch am Hang von Abgeordneten und Parteivorstandsmitgliedern für zeitinkonsistentes Verhalten nichts ändert. Weiterhin wird sich die SPD während ihrer gesamten Regierungszeit bewusst sein, dass die Fortführung der großen Koalition zu Verlusten von Wähler*innen führen wird. Und ebenso wird sich der Bundesvorstand bei der Regierungsbildung bewusst sein, dass eine Regierungsbeteiligung mit Reformen und Ministerien belohnt wird. Entsprechend ist die Konsequenz ein infinitives Eintreten in große Koalitionen bis zum Scheitern an den dafür notwendigen Mehrheiten – was zum langfristigen Schaden für die Bundespolitik und deren Wähler*innen führt, den keine Verkettung von großen Koalitionen jemals aufwiegen könnte.
Auf der anderen Seite ergeht es der Partei aber auch wie der Geldpolitik: Durch das Abweichen von der initial angekündigten Strategie verspielt sie Glaubwürdigkeit. Wieso sollte auch jemand einer Partei Glauben schenken, deren Erklärungen für und wider von Machtoptionen nichts wert sind. Entsprechend ergeht es den künftigen Wahlprogrammen der SPD dann wie den Ankündigungen von Zentralbanken, die mit einmal mit ihren Ankündigungen gebrochen haben: Sie mögen zwar die richten Antworten auf die Fragen der Zeit sein, allerdings wird sich dies nie feststellen lassen, da keinerlei Möglichkeit zur Etablierung der Reformen mehr besteht. Eine immer kleiner werdende SPD bedeutet auch, dass Projekte wie die Bürger*innenversicherung oder die Vereinten Staaten von Europa niemals umgesetzt werden. Kevin Kühnert hat also in doppelter Hinsicht recht, wenn er von Vertrauen als Währung der Politik spricht. Mit dem zeitinkonsistenten Verhalten der Parteiführung verspielt sich die Sozialdemokratie entsprechend jede Glaubwürdigkeit und verliert schlussendlich auch ihre Stammwählerschaft.
Schlussendlich liegt die Lösung des Dilemmas der SPD in einer ähnlichen Regelbindung wie im Fall der Zentralbank: Durch das Abtreten der Entscheidungshoheit auf eine dritte Instanz, die keinen Anreiz hat, von der langfristigen Strategie abzuweichen. Glücklicherweise hat sich die Sozialdemokratie dazu entschlossen, dies in der Gestalt eines Mitgliedervotums über den Koalitionsvertrag zuzulassen. Es bleibt zu hoffen, dass die stimmberechtigte Basis der Sozialdemokratie sich der langfristigen Konsequenzen von zeitinkonsistentem Verhalten bewusst ist, und sich nicht zu sehr von den Parteispitzen einlullen lässt. Ansonsten läuft die Sozialdemokratie Gefahr, Teil eines sich alle vier Jahre wiederholenden Schmierentheater zu werden.