Kein Wahlrecht ist auch kein Jugendschutz
In Deutschland wird immer wieder viel über Kinderfreundlichkeit geredet, aber kaum mit Kindern. Warum ist das so?
Zunächst liegt es daran, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland keine politische Stimme haben, da sie kein Wahlrecht besitzen. Das wird an ganz unterschiedlichen Stellen deutlich. Beispielsweise auf dem Land, wo Bus und Bahn oft so selten fahren, dass Kinder durchweg auf ihre Eltern angewiesen sind, um beispielsweise zu einem Jugendtreff zu fahren, sofern dieser überhaupt existiert. Auch beim Mindestlohn sind die größten Ausnahmen für Minderjährige vorgesehen und eine Mindestvergütung für Auszubildende fehlt bis heute. Das fehlende Wahlrecht wird dann meist mit der fehlenden geistigen Reife begründet. Rentner*innen dagegen besitzen ein Wahlrecht, unabhängig von ihrem geistigen Zustand. Warum dürfen senile und demente Menschen in Deutschland wählen, während den Jugendlichen und Kindern diese Mündigkeit nicht erteilt wird?
Eine Absenkung des gegenwärtigen Wahlalters würde vor allem der Politikverdrossenheit der Jugendlichen entgegenwirken. Einer neuen Studie von Shell zufolge, sind derzeit nur 41% der jungen Menschen zwischen 14 und 21 Jahren in Deutschland politisch interessiert. Dies ist zwar eine Steigerung um 11% seit 2002, jedoch genießen Parteien und Politiker*innen weiterhin sehr wenig Vertrauen bei der Jugend.
Vielfach fordern Experten und verschiedene Organisationen und Initiativen ein Familienwahlrecht oder ein Wahlrecht ab Geburt. Das wäre ein großer Schritt! Jugendlichen und Familien würde mehr politisches Gewicht zukommen und Politiker*innen und Parteien müssten ihre Forderungen ernster nehmen.
Schließlich ist bei der alternden Gesellschaft in Deutschland immer mehr abzusehen, dass Politiker*innen aller Parteien sich verstärkt den Bedürfnissen der älteren Bevölkerungsschichten widmen. Heute machen Rentner*innen ca. ein Fünftel der wahlberechtigten Bevölkerung aus. Im Jahr 2050 wird schon ein Drittel der Wählenden aus Rentner*innen bestehen. Dadurch, dass Sie den Großteil der Wählerschaft ausmachen, ist dies ein natürlicher Prozess, um Wahlen gewinnen zu können. Ein Wahlrecht ab der Geburt könnte hier Abhilfe schaffen, die jungen Generationen einer Gesellschaft hätten ein größeres Stimmgewicht und die Politik müsste sich darauf einstellen, wieder Politik für alle Altersschichten zu machen. Die Jugend eines Landes ist es ja auch, die die Entscheidungen von Heute Morgen mittragen muss, so beispielsweise bei der Klima- oder Rentenpolitik. Hier muss man sich doch fragen, ob unsere Politiker*innen nicht Angst vor den ca. 10 Millionen neuen Wähler*innen haben?
Wenn am Wahltag ein Seniorenpaar und eine Familie zur Urne gehen, stehen dem Seniorenpaar zwei Stimmen zur Verfügung, um ihren politischen Willen zu äußern. Dagegen hat die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern lediglich eine Stimme, um ihren politischen Willen zu äußern. Das ist ein Zweiklassenwahlrecht, das in dieser Form nicht hinnehmbar ist.
Ein Wahlrecht für unter 18-Jährige in Deutschland ist somit wünschenswert. Es würde den politischen Diskurs beleben, Politikverdrossenheit entgegenwirken und was am wichtigsten ist: Es würde der Jugend eine Stimme geben, bei den Entscheidungen mitzureden, welche diese am Ende tragen, zahlen oder ausbaden müssen.
Es gibt in der Bundesrepublik allerdings verbindliche Wahlrechtsgrundsätze, so muss die Wahl allgemein, frei, gleich und geheim ablaufen. Außerdem ist bestimmt, dass die Stimme persönlich abgegeben werden muss. Dies wäre beim Modell des Familienwahlrechts nicht gegeben, da hier die Eltern die Stimmabgabe des Kindes übernehmen. Zum einen wäre die Wahl nicht mehr geheim, das Kind müsste seinen Eltern seinen Stimmwunsch mitteilen. Zusätzlich könnten die Eltern einfach anders abstimmen, ohne es dem Kind mitzuteilen. Eine Verletzung des Wahlgeheimnisses und der persönlichen Stimmabgabe also. Dazu kommt das Problem des Stimmengleichgewichts, die Eltern von zwei Kindern hätten mehr Stimmen als ein kinderloses Paar. Ein solches Modell wird gern von Kritikern einer Wahlaltersabsenkung propagiert, um sich der Frage des Kinderwahlrechts nicht ernsthaft stellen zu müssen. Diese Art von Wahlrechtsabsenkung würde nicht nur eine Grundgesetzänderung nötig machen, sondern auch sein Demokratieprinzip unterminieren. Ein Kinderwahlrecht nach diesem Modell ist somit weder wünschenswert, noch mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar.
Es gibt jedoch auch andere Modelle, beispielsweise dass Kinder und Jugendliche sich selbst ins Wählerverzeichnis eintragen müssen. Dies wäre mit dem Grundgesetz vereinbar und unabhängig vom Wahlgeheimnis, da das Kind komplett selbstständig entscheidet, wann es zu wählen bereit ist und wen es wählen möchte. Auch die Juso-Bundesvorsitzende Johanna Uekermann setzt sich für diese Art von Absenkung des Mindestwahlalters ein. Sie kommentierte im Neuen Deutschland dazu: „Wer emanzipatorische Politik für junge Menschen machen möchte, muss diesen Paternalismus beenden.“ Und Recht hat sie damit! Die jungen Menschen von heute müssen sich in der Frage des Wahlrechts von den älteren Gesellschaftsteilen emanzipieren und dürfen sich nicht länger endmündigen lassen.
Dieser Ansatz der Absenkung des Mindestwahlalters würde auch Art. 20 des Grundgesetzes folgen: „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, da Kinder und Minderjährige zweifelsohne Teil des Volkes sind, müssten sie auch mitbestimmen dürfen. Mit dieser Begründung wurde auch schon vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt – jedoch ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag auf ein Kinderwahlrecht ab mit der Begründung, dass die Grenze ab 18 Jahren historisch erhärtet sei und das das Prinzip der Allgemeinheit der Wahl Genüge getan wäre, wenn das Wahlrecht erst ab einem bestimmten Alter erteilt wird.
In Deutschland besitzt jede*r ab der Geburt das Demonstrations- und Versammlungsrecht, ab 14 Jahren wird der*die Deutsche religions- und strafmündig, kann also über seine Konfession bestimmen und für Strafdelikte belangt werden, wenn auch nur eingeschränkt. Ab 16 Jahren hat jede*r in Deutschland das Recht seinen politischen Willen über Parteien zu formulieren und weiterhin unter bestimmten Bedingungen Ehen zu schließen. Ab 17 können sich sogar alle, die wollen, beim Bund verpflichten und Soldat*innen werden und begleitet Auto fahren. Mit 18 Jahren dürfen junge Menschen aber erst wählen.
Ich halte das Argument des Bundesverfassungsgerichts und der Gegner des Kinderwahlrechts für fadenscheinig und entmündigend. Es gibt viele Dinge, vor denen Jugendliche und Kinder geschützt werden müssen wie Alkohol oder Kinderarbeit, das Wahlrecht ist allerdings keines davon. Wenn ich in Deutschland dem Gesetzgeber zufolge mit 14 über meine Konfession bestimmen kann, kann ich auch mit 14 über meine politische Meinung bestimmen. Eventuell ist man mit 14 unstetig, ändert oft seine politische Meinung und kann sich schwer festlegen. Aber das ist kein Grund dafür, dass junge Menschen in Deutschland nicht mitentscheiden dürfen. Bei älteren Menschen in Deutschland wird diese Unstetigkeit der politischen Meinung genauso zu finden sein. Nirgendwo ist das Wahlrecht an politische Bildung oder Abschluss gebunden. Den Wähler*innen an der Urne werden vor dem Wahlgang ja auch keine Fragen zur aktuellen geopolitischen Lage gestellt. Ein „Wahlreifetest“, der von einigen gefordert wird, halte ich für überflüssig und absurd, da könnte man ja gleich das kaiserliche Zensuswahlrecht wieder einführen und das Wahlrecht an Einkommen und Bildung knüpfen.
Demokratie bedeutet: alle dürfen mitentscheiden, also auch die Jugend! Andersherum ließen sich auch sehr gute Argumente für eine Maximalalterswahlgrenze finden, die beispielsweise ab Menschen ab 90 Jahren verbietet, den Urnengang zu bestreiten.
Wenn man nun mich fragt, ab wann ich ein Wahlrecht erteilen würde, käme für mich die Altersgrenze von 14 Jahren in Frage. Hier kann man sich mit den Kritikern einigen, es gibt keine großen Experimente von Familienwahlrecht oder Vertretungswahlrecht und es ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Mit 14 wird man in Deutschland strafmündig, kann also beispielsweise für Diebstahl belangt werden. Warum wird den 14-Jährigen nicht im Gegenzug für die Strafmündigkeit ein Wahlrecht zugesprochen? Auch hier sollte der Integrationsgrundsatz der Bundesregierung gelten: „fördern & fordern“. Alle 14-jährigen, die ab diesem Alter den Gesetzen unseres Staates unterliegen, sollten dafür auch bei der Ausgestaltung der Gesetze ihre Stimme abgeben dürfen. Jugendliche ab 14 werden in diesem Alter laut soziologischer Studien weniger von ihren Eltern beeinflusst, als vielmehr von ihrem Freundeskreis und schulischem Umfeld. Außerdem wählen Jugendliche einigen Studien zufolge weniger extrem, so sind bei der U18-Bundestagswahl 2013 kaum Stimmen an extrem linke und so gut wie keine Stimmen an extrem rechte Parteien gegangen.
Meiner Meinung nach könnte man das Ganze weiter ausbauen, so hat so gut wie jede*r Jugendliche in Deutschland die Konfirmation, Bar-Mizwa, Jugendweihe o.ä., die die jeweiligen Jugendlichen festlich in das Erwachsenenalter einführen. Diese Einführung in das Erwachsenenalter könnte weiter kombiniert werden mit so etwas wie Jugendstunden, bei denen die Schüler*innen ein Jahr vor der Konfirmation o.ä. monatlich Ausflüge machen um ihre politische Bildung zu fördern und ihr gesellschaftliches Engagement zu stärken. So könnte man Betriebspraktika ansetzen oder im Klassenverband Ausflüge zu Volksvertretungen oder wissenschaftlichen Einrichtungen machen – Tanzstunden, Vorträge oder Museumsbesuche wären auch denkbar. Damit wären auf der einen Seite die Kritiker*innen besänftigt, da ein politisches Bildungsprogramm im Vorlauf zum Erhalt des Wahlrechts stattfindet und es würde der Politikverdrossenheit entgegenwirken, die oft auch mit Unwissen über politische Abläufe gepaart ist.
Deswegen brauchen wir eine Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre. Im diesjährigen Bundestagswahlkampf gehen drei Parteien mit der Forderung eines Wahlrechts ab 16 ins Rennen: die SPD, die Grünen und die Linke. Das ist ein erster Schritt, jedoch geht es jetzt erst richtig los! Einen guten Wahlkampf führen. Das Kreuz bei der Partei mit den drei roten Buchstaben zu setzen. Eine Koalition zu bilden die ein Wahlrecht ab 16 umsetzt und irgendwann rückt dann auch ein Wahlrecht ab 14 näher.