Panic sells
Seit genau 15 Jahren spüren wir sie allgegenwärtig. Die Angst sitzt neben uns im Flugzeug, schreibt unsere Schlagzeilen und ist zu Gast in den Talkshows. Am Stammtisch, Arbeitsplatz oder in den Schulen kennt man sie. Und auch im eigenen Haus oder in der Wohnung ist sie ein treuer Begleiter. Seit der Ereignisse des 11. Septembers 2001 werden wir sie nicht mehr los.
Angefangen als ein weiteres Klischee, ist die „German Angst“ längst zu einem Sinnbild der heutigen Gesellschaft geworden. Eine Generation, die Krieg nur aus dem Fernsehen kennt, die das höchste Wohlstandsniveau genießt und deren größtes Problem es zu sein scheint, ob die Smartphone-Versicherung Wasserschaden denn nun übernimmt oder nicht. Denn versichert sind wir gegen wirklich alles. Das zeigt die Existenz einer Hochzeitsrücktrittskostenversicherung.
Wer viel hat, hat eben viel zu verlieren. Um jeden Preis muss jegliches Risiko beseitigt werden. Lässt sich ein Faktor nicht kontrollieren, reagieren wir mit unverhältnismäßiger Furcht.
Es ist paradox: Die Generation, die in größter Sicherheit lebt, ist auch die ängstlichste geworden. Die R+V-Versicherung, die die Ängste der Deutschen seit 1991 beobachtet, schreibt in einer Studie, dass „nie zuvor im Laufe unserer Umfragen (…) die Ängste innerhalb eines Jahres so drastisch in die Höhe geschnellt (sind) wie 2016“. Zu den Spitzenreitern der wahrgenommenen Gefahrenpotentialen gehören vor allem externe Bedrohungen. 73% der Deutschen haben große Angst vor Terrorismus, und 67% vor Spannungen, ausgelöst durch den Zuzug von Ausländern (vgl. Ängste der Deutschen 2016, R+V Versicherung).
Und wie kann man es den Menschen auch verdenken? Die Gegenwart überschlägt sich vor lauter Krisen. Terrorismus dringt immer weiter in Europas „heile“ Welt ein: erst Paris, dann Brüssel und jetzt auch in Deutschland. Hunderttausende fliehen vor Armut, Gewalt und Konflikten und stehen vor unseren Türen. Der Brexit ist symptomatisch für den bröckelnden Zusammenhalt in Europa. Der Übergang von Krise zu Krise ist fließend und lässt kaum Zeit zum Luft holen. Kein Wunder also, dass es uns beim Lesen der neusten Nachrichten manchmal die Kehle zuschnürt.
Die westliche Gesellschaft wird von einer Kultur der Furcht bestimmt: 2016 waren vermeintlich sichere Urlaubsziele wie Deutschland, Österreich und Italien am beliebtesten. Nach Ägypten oder in die Türkei würden die wenigsten ohne ein mulmiges Gefühl fliegen wollen. Zu groß ist die Angst vor der instabilen politischen Situation und anderen Gefahrenherden. Die Angst vor der Fremde trifft uns auch zuhause und hat die anfängliche Willkommenskultur umschlagen lassen in die Forderung nach einer Begrenzung der Einwanderung. Dankbar wird das CSU-Papier gelesen, das Ordnung verspricht und mit der Mauer an der europäischen Außengrenze auch eine in den Köpfen hochzieht. „Deutschland muss Deutschland bleiben“, fordert die Partei und möchte vorrangig nur Menschen aus christlich-abendländischer Kulturkreisen im Land aufnehmen. Die „Orbánisierung der CSU“ scheint weit fortgeschritten (vgl. Zeit Online).
Doch woher kommt diese Angst vor Andersartigkeit und Veränderung? Allgegenwärtig ist sie im Wahlkampf. Denn wer sich vor der Zukunft fürchtet, hört leichter auf eine Partei, die verspricht, die Verhältnisse aus der Vergangenheit wiederherzustellen. Ängste schüren bringt Stimmen. Das haben AfD und CSU erkannt und so sind die Schlagworte in diesem Wahlkampf Variationen eines Themas: Angst vor Fortschritt, Angst vor Fremden und Angst vor Identitätsverlust.
Doch auch die Medien tragen ihren Teil zur kollektiven Paranoia bei. Neutrale und sachliche Berichterstattung scheint von gestern zu sein. Aus dem „sex sells“ wurde „panic sells“ und so lassen sich selbst renommierte Zeitungen dazu hinreißen, in die Panikmache einzusteigen. Beispielhaft hierfür ist die Empfehlung der Bundesregierung, Vorräte für den Katastrophenfall anzulegen. Im Netz überschlagen sich die Vermutungen, was das zivile Verteidigungskonzept bedeuten soll. Welcher Supergau steht denn jetzt bevor?
In den neuen Medien erleben wir nämlich jede Katastrophe hautnah. Durch all die Berichte über Mord, Verschwörungen und Naturkatastrophen fühlen wir uns nur noch schutzloser unkontrollierbaren Bedrohungen von außen ausgeliefert.
So ist die Gesellschaft gegenüber möglichen Gefahren hypersensibel geworden. Verstärkt wird dies durch eine unrationale Risikobewertung. Der Mensch hat verlernt, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen und umso größer klafft das Loch zwischen gefühlten und tatsächlichen Bedrohungen. Natürlich haben viele Ängste ihre Berechtigung und dass wir z. B. durch gesundes Essen und Sport unser Krankheitsrisiko zu minimieren versuchen, ist richtig. Sicherheitsvorkehrungen wie Airbags und Anschnallgurte retten Leben. Denn dass der Unfalltod im Auto wahrscheinlicher ist, als Opfer eines Selbstmordattentats zu werden, hat doch jeder schon mal gehört. Trotzdem ertappen sich viele dabei, bei arabisch sprechenden Männern im Flugzeug ein ungutes Gefühl zu bekommen und an 9/11 zu denken.
Solche Ängste sind Gift für unsere weltoffenen Ideale. Sie fesseln unseren Fortschritt und lassen uns auf unserer Suche nach vermeintlich absoluter Sicherheit erstarren. Wir streben die Null-Risiko-Gesellschaft an und sehen vor lauter möglichen Horrorszenarien das wirkliche Leben nicht mehr. Panisch schränken wir unsere Freiheit immer weiter ein und ziehen uns verunsichert in einen Bunker aus Vorurteilen, Misstrauen und Abgrenzung zurück. Doch wir dürfen uns nicht von künstlich geschürten Ängsten fremdbestimmen lassen. Wir dürfen uns keine Angst machen und beeinflussen lassen von populistischen Parteien und Akteuren, sondern müssen ihnen den Wind aus den Segeln nehmen, indem unsere Debatten wieder zurückkehren zur Realität. Furcht darf uns nicht steuern und davon abbringen, für das zu kämpfen, was wir erreichen wollen. Nämlich eine multikulturelle, gerechte und lebenswerte Zukunft. Darum brauchen wir Mut zu mehr Mut!
Zeit Online: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/csu-vorstand-zuwanderung-integration-migration (Stand 11.09.2016).