Wie sich die SPD erneuern kann

Die verlorene Europawahl, ebenso wie diverse verlorene Landtagswahlen, sind Symptome desselben Problems, nicht Kern des Problems. Diese triviale Feststellung will ich voran stellen, so offensichtlich sie auch erscheinen mag. Denn es scheint große Teile der Partei zu geben, denen es völlig genügt hätte, bei der Europawahl 22% zu holen, um anschließend Debatten über den Zustand der Partei damit zu beenden, dass das Abrutschen der Parteiergebnisse der alten Sozialdemokratie ja nun offenkundig vorüber sei. Ebenso wie es ein schlechter Rat wäre, ein undichtes Dach für dicht zu erklären, wenn nur der Regen ausbleibt, ist es auch ein schlechter Rat, den Erneuerungsprozess einer Partei für beendet zu erklären, bevor dieser überhaupt begonnen hat, wenn der ursprüngliche Knall, namentlich die verlorene Bundestagswahl 2017, nur nicht mehr laut genug in den Ohren dröhnt.

 

Nach dieser simplen Voranstellung will ich darlegen, was denn nun der Kern des Problems der Sozialdemokratie in Deutschland nach meiner Auffassung ist. Ich will dabei versuchen, meine Gedankengänge Schritt für Schritt darzulegen, um eine Debatte darüber möglichst präzise und einfach zu ermöglichen. Für Anregungen bin ich ehrlich dankbar. Für diejenigen, die weniger Zeit mitbringen, folgt im nächsten Absatz eine kurze Zusammenfassung.

 

Ich werde argumentieren, dass die SPD es versäumt hat, sich ein konsistentes Programm und Profil zu geben. Lediglich hat sie sich darauf beschränkt, Kleinthemen zu bearbeiten, die jedoch kontextlos ein chaotisches Bild der Partei zeichnen. Dies ist nach meiner Ansicht eine Folge aus Mutlosigkeit gegenüber der Union einerseits und einer thematisch zunehmend verarmten Bundestagsfraktion andererseits. Beheben kann die Sozialdemokratie diesen Zustand nur, wenn sie die seit Schröder vernachlässigte Programmarbeit schnellstens aufholt, ihr Profil schärft und sich neu organisiert. Hierfür muss sie auch durchlässiger werden, was die Besetzung von Mandaten angeht. Die Bundestagsfraktion hat dabei Anreize, den Erneuerungsprozess aufzuhalten und zu sabotieren. Letztlich ist der desolate Zustand der Sozialdemokratie auch Resultat fundamental unterschiedlicher Interessen zwischen Parteimitgliedern und Parteifunktionären.

 

Wenn Wahlniederlagen ein Symptom sind, was ist dann die Krankheit?

Die SPD wird in Deutschland, betrachtet man die Demographie, vornehmlich von Personen im Rentenalter gewählt. Nicht gewählt wird sie in großen Teilen von Personen unter 30 Jahren, die wir im Folgenden “die Jugend” nennen, und von Personen zwischen 30 und 65 Jahren, die wir im Folgenden “die Erwerbstätigen” nennen. Die Begriffe dienen natürlich nur der Vereinfachung und sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch erwerbstätige Personen in anderen Alterskohorten gibt. Wird nun eine Partei zum überwiegenden Teil von der Kohorte der Rentner*innen gewählt, und spricht sie jüngere Kohorten nicht an, dann erscheinen zweierlei Erklärungen plausibel. Einerseits kann es sein, dass die Forderungen der Partei vornehmlich an den Präferenzen der Älteren ausgerichtet sind. Dann müsste sich die Partei ein Programm für die Jüngeren geben. Andererseits kann es sein, dass die Partei mit ihren Forderungen niemanden überzeugt, sodass lediglich der harte Kern, also Stammwähler*innen und Gewohnheitswähler*innen übrig bleiben. Dann müsste sich die Partei ein Programm geben.

In beiden Fällen jedoch kann man der SPD ein programmatisches Problem diagnostizieren, basierend auf den Symptomen, dass sie mit ihren Forderungen keine neuen Wähler*innen hinzu gewinnt und alte Wähler*innen, in großen Teilen an die Nichtwähler*innen, verliert. Die programmatischen Defizite der Partei wiegen heute deutlich schwerer als in der Vergangenheit: Hatte die Sozialdemokratie einst das Vertrauen der Arbeiter*innen und musste daher keine umfassenden Pläne offenlegen, um gewählt zu werden, so sieht sie sich heute mit einer anderen Wähler*innenschaft konfrontiert, die ihr nicht bedingungslos die Stimme geben möchte. Diesen Umstand hat sich die Partei mit Politikmaßnahmen wie der Agenda 2010, aber auch der Stillstandspolitik in der großen Koalition, selbst eingebrockt. Auch hat sie in den richtungsweisenden Fragen, beispielsweise bei der Ausweisung sicherer Herkunftsstaaten in der Asylpolitik, bei der Abstimmung um Artikel 13 der EU-Urheberrechtsreform oder beim Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche eine klare Position vermissen lassen. Damit wurde das Urvertrauen der sozialdemokratischen Klientel gegenüber ihrer Partei geschädigt.

Dieser Umstand hätte behoben werden können, indem die Sozialdemokratie ihre politischen Pläne transparent gemacht und an die Öffentlichkeit transportiert hätte. Anstelle eines politischen Plans hat die SPD jedoch einzelne Kleinthemen präsentiert, die für sich genommen sicherlich ihre Berechtigung haben, jedoch, solange sie nicht in eine politische Idee eingebettet werden, die Partei sprunghaft und planlos erscheinen lassen. Das große Defizit der SPD ist es, dass sie die Frage, wofür sie eigentlich steht, mit einer Aufzählung von Kleinthemen anstelle einer politischen Idee beantwortet. Die SPD sagt nicht, dass sie die Partei des demokratischen Sozialismus ist und daher für sozialen Aufstieg, Umverteilung und Gleichstellung kämpft. Stattdessen holt sie, eingebettet in Schlagworte wie Fairness, Gerechtigkeit und Zusammenhalt, ihre Liste an Kleinthemen hervor, und beginnt damit, diese vorzulesen.

 

Dünnbrettbohren und Jein-Positionen bilden keinen politischen Markenkern

Nun hat die SPD in der Bundesregierung viel durchgesetzt: Die Rückkehr zur Parität in der Krankenversicherung, das Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz und viele weitere Gesetzesinitiativen mit Titeln in Orwells Neusprech zieren die Liste erfolgreicher SPD-Politik. Nur ersetzt das Abhaken von Kleinthemen kein politisches Programm. Werden Forderungen der SPD nicht in eine konsistente Erzählung eingebettet, so vermittelt man das Bild einer chaotischen, orientierungslosen Partei. Gleichzeitig vermittelt die Partei mit ihrer Politik den Eindruck, drängende politische Großprojekte gezielt zu umschiffen, vermutlich in der Voraussicht, dass diese konsensual mit der Union ohnehin nicht gelöst werden können. Weder hat die SPD formuliert, wie das Konstrukt einer Europäischen Union sozialdemokratisch ausgestaltet und fertiggestellt werden kann, noch hat sie Antworten auf den demografischen Wandel formuliert. Hinsichtlich der Umweltpolitik genügt sie sich damit, den Kohleausstieg “sozial gerecht” gestalten zu wollen, sagt aber nicht was genau sie damit meint und diskutiert auch nicht, ob und wie sie gedenkt, die Pariser Klimaziele einzuhalten. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik setzt sie das Werk eines Wolfgang Schäuble mit der Politik der schwarzen Null fort, anstelle Alternativen aufzuzeigen. In der Außenpolitik setzt sie keine Akzente, sondern genügt sich als Beobachterin. Die SPD ist in der Großen Koalition zu einer Politik des Dünnbrettbohrens übergegangen und wagt den Streit bei politischen Richtungsfragen nicht, wohl in der Voraussicht, ohnehin keine zufriedenstellende Lösung mit der Union finden zu können. Dabei vermittelt sie das Bild, bereits vor dem Kampf kapituliert zu haben. Anstelle die Einhaltung der Pariser Klimaziele als Bedingung zum Fortbestand der Koalition zu machen ignoriert die Partei das Thema gänzlich. Aktuelle Einzelthemen, wie der mit Uploadfiltern einher gehende Artikel 13 der EU-Urheberrechtsreform , die Freihandelsabkommen CETA und TTIP oder die Causa Maaßen verschläft die Partei entweder, oder beantwortet sie mit einem klaren Jein, indem sie sich mal dafür, dann wieder dagegen, dann wieder dafür und dann gespalten positioniert. Während bei allen demokratischen Parteien von Relevanz klar ist, wohin sie wollen (Union: Kurs fortsetzen; Grün: ökologischer; Linke: stärker nach unten umverteilen; FDP: mehr Markt), weiß man bei der SPD, dass sie eigentlich anders als die Union wollen würde, aber ohnehin früher oder später einknickt. Kurz gesagt: Die Sozialdemokratie steckt sich langfristig keine großen Ziele, weil sie diese ohnehin verfehlt. Sie genügt sich mit Dünnbrettbohrerei bei bekannten Themen, die sie mit lustigen Gesetzesnamen versieht. Und sie ignoriert hochkommende, aktuelle Themen, um sich anschließend zunächst mit der Union, dann aufgrund parteiinternen und parteiexternen Drucks dagegen, und dann teils dafür, teils dagegen zu positionieren. Damit fehlen der Partei zwei wichtige Eigenschaften, um als wählbare Alternative zur Union wahrgenommen zu werden: Eine klare und konsistente Erzählung, wofür sie steht, und der Wille, Forderungen auch gegen die Union durchzusetzen. Vordergründig hat die SPD ein programmatisches Problem.

 

Die SPD braucht keine Personaldebatte, sondern neues Personal

Anstelle die programmatischen Probleme der Partei zu beheben, hat man im Nachgang von verlorenen Wahlen stets ein Bauernopfer gefunden, das für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht werden konnte, um anschließend die Programmdiskussion für beendet erklären zu können. Nach Martin Schulz ist nun Andrea Nahles das aktuelle Bauernopfer sozialdemokratischer Wahlniederlagen. Dabei ist eine Übeltäterin stets verschont geblieben: Die SPD-Bundestagsfraktion, welche die Schlüsselrolle in der Politik des Klein-Kleins einnimmt. Diese hat in den vergangenen zehn Jahren eindrucksvoll bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, gesellschaftlich notwendige Veränderungen, beispielsweise beim Umweltschutz, bei der Digitalisierung der Arbeitswelt oder auch im Rahmen der Euro-Rettung, einzuleiten. Viel schlimmer noch: Sie hat eindrucksvoll zur Schau gestellt, dass sie noch nicht einmal in der Lage ist, intellektuell zu erfassen, was die zentralen Probleme einer vom Dogma des Neoliberalismus getriebenen Politik sind. Die Sozialdemokratie hat keine Alternativen zur Krisenpolitik im Rahmen der Weltfinanzkrise und später der Eurokrise präsentiert, weil sie machtlos war – sie hat keine Alternativen präsentiert, weil sie nicht in der Lage war, die Situation zu verstehen. Im Bereich Wirtschafts- und Finanzpolitik ist die Sozialdemokratie im Bundestag blank. Ähnliches gilt für den Bereich der Netzpolitik: Die SPD hat sich in das Debakel um Artikel 13 der EU-Urheberrechtsreform begeben, weil in der Fraktion niemand verstanden hat, was die Implikationen der Gesetzesnovelle sind. Und gleiches gilt für den Umgang im Cum-Ex-Skandal, wo sich die Bundesregierung über Jahre hinweg Gesetze von den vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften schreiben hat lassen, die dann die so geschaffenen Schlupflöcher ausgenutzt haben, um Steuern zu sparen. Dies wurde erst durch den fehlenden Sachverstand der Mitglieder des Bundestags möglich. Während einige Themen mehrfach besetzt sind, fehlt es der SPD gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik an Personal.

Im Fußball würde man diesem Umstand begegnen, indem man die mehrfach besetzten Positionen durch frische Spieler*innen von der Ersatzbank auswechseln würde. Jedoch führt das Senioritätsprinzip bei Listenreihung im Falle der SPD zu einem völlig überalterten Kader, in dem alle Abwehr spielen, Zeit schinden und die Bälle weit ins Aus schlagen, um Klärversuche dann so abzufeiern als hätte man gerade ein Tor geschossen. Aus der Perspektive des Teams geben sich sicherlich alle Mühe – von außen betrachtet sieht das ganze Theater jedoch chaotisch und skurril aus.

Weil aber der gegenwärtige Modus der Listenreihung zu suboptimalen Aufstellungen führt, und damit einen Missstände reproduziert, anstelle ihn zu beheben, muss etwas am Modus selbst geändert werden. Andernfalls wird sich die Bundestagsfraktion weiter schleichend dezimieren, bis irgendwann nichts mehr von ihr übrig ist. Eine notwendige Erneuerung der Partei ist mit großen Teilen der Mandatsträger*innen nicht zu machen: Sie haben die falschen politischen Entscheidungen getroffen (und noch viel schlimmer: politische Entscheidungen verschleppt und verweigert) und können daher nicht glaubwürdig für eine Neuaufstellung der Sozialdemokratie stehen. Für sie besteht also, sofern sie am Mandat festhalten wollen, der Anreiz, den Erneuerungsprozess der Partei so stark wie nur irgendwie möglich auszubremsen – worin sie zugegebenermaßen sehr erfolgreich sind.

 

Wie eine Erneuerung also aussehen muss

Die Erneuerung der Sozialdemokratie muss zwei Komponenten betreffen: Das Programm sowie das Personal.

Programmatisch muss die Sozialdemokratie sich ein neues Grundsatzprogramm geben, welches sie vorher ausführlich und in allen Gremien diskutieren muss. Wenn der Sozialismus-Eklat von Kevin Kühnert eines gezeigt hat, dann, dass weite Teile sozialdemokratischer Funktionär*innen nicht mit dem Grundsatzprogramm vertraut sind. Die Neufassung eines solchen bietet daher Gelegenheit, zentrale Kernthemen der SPD zusammen zu fassen, eine konsistente Erzählung zu entwickeln und anschließend zu beschließen. Sie würde jedem Mitglied der SPD eine Geschichte zur Hand geben, die man den Menschen auf die Frage, wofür die SPD eigentlich steht, erzählen könnte, sodass man sich das Aufzählen kleinteiliger Gesetzesinitiativen künftig sparen könnte. Und es würde sich die Gelegenheit ergeben, die spätestens seit Schröder sträflich vernachlässigten Hausaufgaben der Partei endlich aufzuholen. Die Sozialdemokratie müsste festlegen, welche Wirtschaftsform und -ordnung sie sich vorstellt, und wie sie gedenkt, die Machtgefälle zwischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen auszugleichen. Sie würde gezwungen, eine eindeutige Position zu beziehen und nicht vor jeder Wahl das Programm basierend auf Millieustudien und anderem unpolitischen Kram anzupassen und damit zu einem verlässlichen Partner für ihre Klientel. Und sie könnte sich eine zentrale Idee geben, die sie mit Forderungen ausfüllt.

Dabei muss die SPD weniger sagen was sie macht und mehr, warum und wofür sie es macht.

Personell muss die SPD ihre alten Zöpfe abschneiden. Die Bundestagsfraktion hat bereits eindrucksvoll bewiesen, dass ihr nichts an der Erneuerung der Partei liegt. Im Gegenteil: Mit ihrem Drängen auf den Eintritt in die große Koalition hat sie die Erneuerungsversuche der Partei im Keim erstickt. Gleichzeitig unternimmt sie alles, um möglichst große Teile der immer kleiner werdenden Verteilungsmasse an Mandaten der Sozialdemokratie zu behalten und wird durch das Senioritätsprinzip strukturell übervorteilt. Entsprechend muss das Statut der SPD dahingehend geändert werden, dass gleiche Chancen bei der Verteilung von Listenplätzen bestehen. Durch einen Austritt aus der Großen Koalition, einer klaren Absage an einer Regierungsbeteiligung mit der Union und dem damit verbundenen Erneuerungsprozess in der Opposition könnte die Partei sich ein neues Profil (oder überhaupt ein Profil) zulegen.

Mit dem Bauernopfer Andrea Nahles hat die Bundestagsfraktion eindrucksvoll bewiesen, dass sie zu keinem Erneuerungsprozess bereit ist. Es wird sich zeigen müssen, ob die Partei als Ganzes, und insbesondere die Parteiführung, in der Lage sein wird, gegen die Interessen der Fraktion eine Erneuerung durchzusetzen.

 

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