Zukunft in der Vergangenheit?
Vor kurzem wurde ich durch einen Link zu einem Bericht des Fernseh-Magazins Panorama, den ein guter Freund mit der Anmerkung „Das ist wirklich sehr sehr gruselig…“ in eine Telegram-Gruppe stellte, auf das neu entdeckte Forschungsprojekt eines US-amerikanischen Wissenschaftlers aus dem letzten Jahrhundert aufmerksam.
Der besagte Mann der Wissenschaft nannte sich Theodore Fred Abel und arbeitete in grauer Vorzeit als Soziologe an der Columbia Universität in New York. Abel kam Anfang der 1930er-Jahre auf die interessante Idee, man könne doch den NS-Faschismus – der gerade im Deutschen Reich seine Schreckensherrschaft festigte – sozialwissenschaftlich unter die Lupe nehmen. Sein Untersuchungsobjekt war dabei nicht der NS-Staat als solches, auch nicht sein Führungspersonal, sondern das einfache NSDAP-Mitglied und dessen Motive für sein Engagement in dieser verhängnisvollen Bewegung. Um eine Datenbasis für seine Forschung zu generieren, schrieb er ein Preisausschreiben aus, das stolze 125 Reichsmark dem– oder derjenigen versprach, der*die am besten ihren*seinen Eintritt in Hitlers Partei plausibel machen konnte. Voraussetzung für die Teilnahme war freilich bereits vor 1933 Mitglied gewesen zu sein, um Karrierist*innen auszuschließen und nur waschechten überzeugten Faschos die Partizipation zu ermöglichen. 683 Braunhemden antworteten mehr oder weniger ausführlich, manche von ihnen Arbeiter*innen, manche Barone oder Fabrikanten. Sie berichteten von ihrer Kindheit, ihren beruflichen Erfahrungen, ihren Ängsten und Hoffnungen. Bei der Lektüre nur einiger weniger dieser Biogramme konnte ich den Grusel nachempfinden, den meinen Freund gespürt hatte, denn man gewinnt mit jeder Seite einen tieferen Einblick in die Psyche eines faschistischen Charakters.
Warum werden Menschen zu Nazis? Diese Frage ist plakativ und in einem Blogbeitrag selbstredend nicht zu beantworten. Fast alle linken Sozialwissenschaftler*innen des 20. Jahrhunderts haben sich einmal mit dieser Frage beschäftigt und wurden sich nicht einig. Seien es Adorno und Horkheimer mit ihrer „Dialektik der Aufklärung“ oder Ernst Bloch in „Erbschaft dieser Zeit“. Heute stellt sich uns die gleiche Frage, zwar in verändertem Kontext aber leider nicht weniger dringlich. Ich möchte in diesem Artikel nicht einmal den Versuch unternehmen eine Antwort zu geben, stattdessen möchte ich alle Leser*innen auffordern, selbst zumindest einen kurzen Blick auf das umfangreiche digital aufbereitete Datenmaterial zu werfen und sich eigene Gedanken zu machen. Vieles wird nicht alt und längst überwunden, sondern verstörend vertraut und aktuell anmuten…
Link zur digitalisierten Version der Biogramme :