Ein Umriss der menscheigenen Schuldfrage

Der Schuldbegriff – im täglichen Sprachgebrauch und Miteinander, ob philosophischer, rechtlicher, psychologischer oder hybridisierter Natur, von vehementer Präsenz. In seiner Abstraktheit keine eindeutige Definition zulassend. Individuell variierendes Schuldempfinden bemisst sich an subjektiven Norm- und Wertkonstrukten. 

Urteilsmaßstäbe des Zurückführens von Schuld auf Einzelne zu finden stellt eine schwerwiegende Herausforderung des Rechts dar, welches als imperative Sollensordnung bemüht ist, Vergehen als rechtens oder unrechtens zu kategorisieren. Dennoch wagt die ethisch-moralische Abstraktion der Schuldfrage es, den Horizont eines dualistischen Richtig und Falsch zu übersteigen.

Die Anerkennung eigener Schuld ist Ergebnis des Erkennens eines Verstoßes gegen das eigene Gewissen in Abwägung von Kenntnis beziehungsweise Unkenntnis über die Verwerflichkeit eigenen Vergehens und des dahinter schlummernden Wollens oder Nichtwollens der Konsequenzen des eigenen Handelns.

Vorwerfbarkeit willentlichen Handelns gemessen an der Vermeidbarkeit unethischen Handelns ist ein Versuch objektiver Messbarkeit von Schuld, welcher sich einem in einem gesellschaftlichen Rahmen weitestgehend anerkannten Norm- und Wertkonstrukt unterwirft. Doch liegt Schuld in der bloßen Bewertung eines Aktes selbst oder im dahinterstehenden Willen, dem Folgen oder Ausbleiben eines Schuldbewusstseins?

Nulla poena sine culpa.

Die strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehende Schuld setzt sowohl Vorsatz oder Fahrlässigkeit (Begehen einer vermeidbaren Pflichtwidrigkeit trotz eigener Kenntnis und Fähigkeiten), als auch die durch die Strafmündigkeit des Individuums einschränkbare Zurechnungsfähigkeit (intellektuelles Moment, in dem das Individuum seine Handlung als solche oder in Bezug auf dessen Folgen als Unrecht ausmacht und in einem Willensmoment gemäß dieser Einsicht die Tat dennoch ausübt) voraus. Nur die Willensfreiheit des oder der Einzelnen, die Wahl zwischen Recht und Unrecht, kann Schuld zur Folge haben und eine Strafe zur Konsequenz haben.

Schuldloses Handeln sieht das deutsche Strafgesetzbuch im Falle eines Irrtums über die Widerrechtlichkeit einer Tat in ihrer tatbestandsspezifischen Gestalt oder des nicht Anerkennens einer Handlungspflicht vor. In diesem Falle wird der Täterin oder dem Täter keine Schuld zugesprochen, womit auch keine Strafe zu folgen hat.

Nulla poena sine lege.

Der für rechtliche Maßstäbe notwendige Dualismus von Recht und Unrecht erleichtert die Antwort auf die Frage des schuldig Seins, zumindest in der Theorie, erheblich, schafft Rechtssicherheit.

Welche Herausforderung das Finden eines noch nicht vorhandenen Straftatbestands, welcher auf ein konkretes und moralisch zu verurteilendes Vergehen anwendbar ist, ist, illustrieren ohne Rechtslage oder Präzedenzfall hantierende Unternehmungen wie die Nürnberger Prozesse vor dem internationalen Menschengerichtshof besonders deutlich. Wo der unbeeinflusst human denkende Mensch unerträgliche Verbrechen besonders intensiv spüren kann, sind ihm die Hände augenscheinlich gebunden, so kann Gerechtigkeit dennoch nur ihren Lauf nehmen, wenn dem oder der eine Strafe widerfährt, die ihm zuteil werden sollte.

Während das Strafrecht eine Möglichkeit gefunden hat, Handlung und Unterlassen in rechtens und unrechtens zu kategorisieren, kann und darf die persönliche ethisch-moralische Intuition sich angesichts eines juristischen Urteils sträuben. Kein Urteil, kein Gesetz ist unfehlbar und keine Kategorisierung jeglicher Art ist in der Lage, das Konstrukt der Schuldzuweisung vollends zu ergreifen.

Schuld zu empfinden mag ein gewisses Maß an Empathie und Selbstreflexion erfordern, welches nicht jedem Individuum inne wohnt. Wohl Schuldbewusstsein, ob momentan oder retrospektiv, nicht aber die Schuld selbst ist an der Bereitschaft zum Eingeständnis zu messen.

Nun gibt es nicht nur Jene, denen es schier unmöglich zu sein scheint, sich schuldig zu bekennen, sei es Hybris, sei es aufgrund mangelnden Verständnisses für die rechtliche oder ethisch-moralische Verwerflichkeit des eigenen Handelns. Sei es die drängende Frage, was genau eigentlich Ethik (der Versuch, menschliches Handeln nachzuvollziehen und zu bewerten) und Moral (individuelle, kulturelle oder gruppenspezifische Prinzipien und Konventionen) sein mögen und wer es sich herausnehmen kann, recht und falsch zu klassifizieren. Zu einer reifen Erkenntnis diese Zweifel betreffend zu gelangen ist Beweggrund jeglichen Denkens, das nur in seiner Gesamtheit und seinen Übereinstimmungen zumindest einen Hinweis zu geben befähigt ist.

Auf der anderen Seite stehen Solche, welche in einem schier masochistischen Bestreben in einem Übermaß an Schuldbewusstsein versinken. Wie ein kafkaeskes Leidensstreben (Verweis auf den „Brief an den Vater“) wächst das Schuldbewusstsein über sich hinaus, dient als nahbare Projektionsfläche tiefstliegender Ungereimtheiten, das Schuldeingeständnis wird zum Schuldgefühl. Dieses treibt repetitiv und immer frequenter an die Oberfläche, gedeiht zu einem regelrecht kompulsiven Schadmittel heran, wird Kompensationsmittel, welches jegliche Löblichkeit wesenseigener Aufrichtigkeit und selbstreflektierter Schuldbekenntnisse bis ins Obszöne verschleiert.

Mit Schuld umzugehen ist somit nicht nur Frage eines Rechtsstaats, einer Wertegemeinschaft, sondern vor Allem der Person, die mit der eigenen Schuld zu leben hat. Verdrängung und ins Manische ausartende Gewissensbisse und Wiedergutmachungs-Bemühungen stehen sich gegenüber – wo vicieuse Kompensationsmechanismen oder schlicht Ignoranz sich in ihrer doch so natürlichen Abstrusität treffen, verabschieden sie bei starkem Bewusstsein und Empfinden der eigenen Schuld, möge diese gravierend genug sein, um die moralischen Standards einer Person überworfen zu haben, eine der Kunstfertigkeit der Mesotes entsprechenden Sühne.

Ob Vergebung allein eine Schuld tilgen kann erscheint fraglich angesichts mangelnder Einsicht, doch möge aufrichtige Reue ein erster Schritt sein.

Verantwortung kompatibilistisch aus Schuld zu folgern wird von anlage- und umweltbedingten Bestimmungskräften von Gut und Böse, welche unsere kontemporäre Gesellschaft sich mühsam aber stichfest differenziert angeeignet haben mag, maßgeblich erleichtert. So fordert die Frage nach eigener Schuld nicht mehr ausschließlich sich selbst, um ein eigenes Richtig und Falsch zu entwickeln, welches sich kategorisch wünschenswert und nicht bloß temporär spezifisch und egozentrisch auf die Allgemeinheit anwenden lassen würde. Ebenso sorgt die Existenz legitimiert urteilender Institutionen für die konkrete Manifestation des soeben Genannten.

Zwar lässt die Schuld einer oder eines Einzelnen nicht auf eine Gruppe schließen – so würde das Erteilen einer Kollektivschuld als himmelschreiende Anmaßung bedeuten, den notwendigen Rückschluss von Vergehen auf sich schuldig Machen zu sprechen. Doch ist Verantwortung nicht allein Eingeständnis, sondern auch Erfahrungswert, ein kleines Partikel des menschlichen Vergehens aneinander. Nur die Anerkennung von Verantwortung, welche sich erst durch Fehlbarkeit offenbaren kann, und Beibehaltung über Generationen, kann präventiv dazu beitragen, das Verständnis von richtig und falsch zu schärfen und zu einer zueinander gerechten Gesellschaft führen.

Schuld ohne Sühne ist das Gift, das Grausamkeit aufrecht erhält. Wo das Tilgen von Schuld Lücken aufweist und nicht nachholbar ist, füllt das würdevolle, attentive Tragen von Verantwortung eben diese und ist die einzige Chance auf Heilung.

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