Worüber die Wahl entscheidet: Die Zukunft der Arbeit im Lichte der Wahlprogramme

Im Wahlkampf ist viel geredet worden: Über Trump, Erdogan, Flüchtlinge, irgendwelche Errungenschaften irgendwelcher ehemaliger Regierungen der letzten siebenundzwanzig Jahre, den letzten Kirchenbesuch und hässliche Hundekrawatten. Ob das nun alles für die Wahlentscheidung von irgendjemandem relevant ist oder nicht, das liegt in dessen eigenem Ermessen. Für meine Wahlentscheidung, und vermutlich auch für die Wahlentscheidungen vieler anderer, ist es das nicht. Ich wähle auf Basis von Zukunftsvorschlägen, nicht auf Basis von vergangenem Handeln. Im Übrigen: Dass sich im TV-Duell die beiden Kandidaten für das Kanzleramt derart einig waren, lag genau daran: Dass man über die gemeinsame Vergangenheit gesprochen hat, und nicht über die Gestaltungsvorschläge für die Zukunft. Genau über das Letztere möchte ich allerdings in diesem Beitrag sprechen: Über die Zukunft Deutschlands, genauer gesagt den Umgang der Parteien mit dem Thema Arbeit 4.0 – Arbeit im digitalen Zeitalter. Ich will diskutieren, ob und wie die Parteien die Wirtschaft neu organisieren wollen, wer dabei neue Chancen erhält, für wen die angestrebten Reformen Einschnitte bedeuten, und wer womöglich morgen seinen Job los ist.Warum das alles? Ich glaube, dass die Digitalisierung gerade für Deutschland eine unglaubliche Chance, aber auch ein unglaubliches Risiko sein kann. Wie kein anderes Land der Welt hängt die deutsche Wirtschaft mit all ihren Arbeitsplätzen an der Automobilindustrie, der ersten großen Industrie, die durch die Digitalisierung massiv revolutioniert werden könnte. Bisher waren die Effekte der Digitalisierung auf den Arbeitsalltag eher gering: Mehr Zeit auf Facebook reduzierte die Produktivität, Roboter und Dateninfrastruktur erhöhten sie. Nun aber droht mit der konventionellen Automobilindustrie eine gesamte Branche vom Markt gefegt zu werden, und an dieser Branche hängt zufälligerweise ein Großteil der deutschen Arbeitsplätze. Hier macht also die Wahl tatsächlich etwas aus. Plakativ gesagt wählt man den eigenen Arbeitsplatz. Deutschland war im Übrigen schon einmal von einer ähnlichen Disruption betroffen. Das Bild zeigt den stillgelegten Industriepark Duisburg Nord, Symbol für das Ende der deutschen Hütten.

Der Industriepark Duisburg: Symbol für das Ende einer gesamten Branche.

Zu diesem Zweck habe ich die Wahlprogramme der einzelnen Parteien zum Thema Arbeit 4.0 durchsucht (selbstverständlich hat die Digitalisierung auch andere wichtige Facetten, wie den Breitbandausbau, aber darum geht es hier nicht). Ich liste zunächst die Forderungen der Parteien auf und diskutiere anschließend die Folgen einer konservativ-wirtschaftsliberalen Regierung sowie einer sozialistisch-grünen Regierung für drei potentielle Personen eines Automobilherstellers: Hans, einen niedriglohnbeschäftigten Arbeiter am Fließband, Hanna, eine überdurchschnittlich vergütete Ingenieurin und Johann, dem der ganze Laden gehört.

Bei der Recherche wurden alle Programme nach den Schlagworten „Digitalisierung“, „Arbeit“, „Wirtschaft“ und „4.0“ durchsucht. Zudem wurde themenabhängig via Inhaltsverzeichnis gesucht.

 

Die CDU/CSU stellt ihre Vorschläge zum Thema Arbeit 4.0 unter dem Programmpunkt „Chancen im digitalen Zeitalter“ vor. Hier werden hohe Ansprüche definiert: Deutschland soll Vorreiter im Bereich Wirtschaft 4.0 werden; es ergeben sich neue Wachstumschancen; Daten können Wachstum steigern; Wir sind Autoland Nummer 1. Konkret wird es beim Thema Arbeit, denn hier sieht die Union eine bessere Vereinbarkeit von Job und Familie durch neue Arbeitszeitmodelle. Das Thema „Flexibilisierung von Arbeitszeit“ findet sich häufiger im Programm und soll die Wirtschaft stärken. Ebenso wird Unternehmen mit Tarifbindung mehr Freiheit eingeräumt. Insofern könnte die Flexibilisierung sich letztlich als zweischneidiges Schwert entpuppen. Marktanteile im Bereich Onlineshops will man in Deutschland hinzugewinnen und dafür ggf. das Kartellrecht anpassen.

 

Bei der SPD zieht sich das Thema Digitalisierung und Arbeit 4.0 durch das gesamte Wahlprogramm. An den Anfang gestellt sind die Rechte von Arbeitnehmer*innen: Unbefristete Arbeitsplätze, sozial abgesichert, nach Tarif bezahlt, mit Weiterbildungsmöglichkeiten. Bildung und Weiterbildung sollen durch regelmäßige Fortbildung von Ausbilder*innen, einer Weiterentwicklung des Berufsbildungsgesetzes und mehr berufsbegleitende Weiterqualifizierung realisiert werden. Durch Stipendien und eine Öffnung der Hochschulen für Arbeitnehmer*innen aus dem dualen System soll mehr Durchlässigkeit geschaffen werden. Flexibilität im Sinne der Familien will die SPD über ein Wahlarbeitszeitgesetz realisieren, welches unter anderem den Wechsel von Vollzeit in Teilzeit und wieder zurück garantieren soll. Zusätzlich wird das Arbeitsrecht angesprochen: Risiken wie ständige Erreichbarkeit werden durch ein Recht auf Nicht-erreichbarkeit ausgeschaltet. Innovationen in Unternehmen sollen durch Forschungszulagen und regionale Innovationsagenturen unterstützt werden. Ganz konkret wird die SPD bei der Automobilindustrie: Zentral sei die Ansiedlung der Batteriezellenfertigung in Deutschland.

 

Die LINKE stellt fest, dass für Freelancer kaum arbeitsrechtliche Standards gelten und will diese mit sozialversicherungspflichten Stellen gleichstellen. Fortbildung ist für die LINKE zentral: Arbeitnehmer*innen erhalten einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und reduzieren dafür ihre Arbeitszeit, Kosten werden durch den*die Arbeitgeber*in getragen. Analog zur SPD fordert die LINKE ein Recht auf Nichterreichbarkeit nach Feierabend sowie ein Rückkehrrecht aus Teilzeit. Im Rahmen einer Wirtschaft der Zukunft sollen größere Unternehmen, Banken und die Schlüsselindustrie kollektiviert werden.

 

Im Programm der AfD tauchen die Begriffe Digitalisierung und Arbeit 4.0 nicht auf. Lediglich wird häufig von einer Förderung der MINT-Studiengänge und Fächer gesprochen, ebenso wie von einer Förderung wichtiger Branchen. Überhaupt umfasst der Bereich Steuern, Finanzen, Wirtschaft und Arbeit nur fünf Seiten im Programm der AfD. Dieser ist einfach zusammengefasst: Steuern runter, schlanker Staat, flat tax.

 

Die FDP will mehr Flexibilität der Arbeitnehmer*innen durch Langzeitkonten für Arbeitszeit etablieren und diese unabhängig von der Anstellung machen. Arbeitszeitregulierungen auf nationaler Ebene sollen aufgehoben werden. Forschungsförderung soll in Unternehmen durch Steuergutschriften betrieben werden. Insbesondere im Bereich Bildung will auch die FDP die Chancen von Digitalisierung nutzen: Mehr Ausgaben für Technik in Schulen, digitale Tools für lebenslanges Lernen und Azubi-Austauschprogramm sollen die Chancen der Digitalisierung nutzbar machen.

 

Die GRÜNEN sehen die Chancen der Arbeit 4.0 in der Etablierung von Homeoffices. Ständige Erreichbarkeit soll unterbunden werden. Mittels eines staatlichen Darlehens soll die Weiterqualifizierung von Arbeitnehmer*innen bezuschusst werden.  Analog zur SPD fordern die GRÜNEN ein Recht auf Arbeitszeitreduktion mit Rückkehroption. Bei Unternehmen sollen Subventionen nach Klimaverträglichkeit umgeschichtet werden. Zudem sollen Forschungsausgaben bis 15% vom Staat getragen werden.

 

 

Nun wagen wir ein Gedankenexperiment. Die Bundestagswahl ist vorüber, und wir analysieren die Effekte der politischen Maßnahmen auf drei Zielpersonen: Hans ist ein 53 Jahre alter Facharbeiter, der bei einem Automobilhersteller angestellt ist. Hanna ist eine 30 Jahre alte Ingenieurin bei selbigem Arbeitgeber, und Johann ist der Arbeitgeber der beiden.

 

Szenario 1

Aufgrund der Politik der konservativ geführten Regierung konnte Johann sein Unternehmen zukunftssicher umbauen: Durch mehr Beinfreiheit im Umgang mit den Gewerkschaften und mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit. Zwar hatte die deutsche Wirtschaft zunächst Marktanteile an amerikanische und asiatische Autobauer verloren, weil die E-Mobilität verschlafen wurde, jedoch konnte dank Kurzarbeit und rascher Entlassungen flexibel auf die Einschnitte reagiert werden. Durch staatliche Investitionsanreize wurde die Krise abgewendet und Deutschland befindet sich wieder auf dem Weg zum Autoland Nummer 1. Sowohl Hannah, wie auch Hans haben die Verluste spüren müssen. Hannah konnte glücklicherweise die Reduzierung ihrer Arbeitszeit mit ihrem Kinderwunsch kombinieren. Mit ihrer reduzierten Arbeitszeit nutzt ihr jedoch die Prämie für teure Elektroautos nicht besonders viel. Hans wurde, infolge der Auftragseinbrüche und der Aufweichungen beim Kündigungsschutz, entlassen und konnte sein Arbeitszeitkonto für Qualifikationsmaßnahmen nutzen. Er wird nun in einem neuen Vertrag beschäftigt, der mit flexibleren Arbeitszeiten und ohne Tarifbindung auf die moderne Arbeitswelt angepasst ist. Die deutsche Wirtschaft ist auf dem Weg zum Titel des Exportweltmeisters. Gleichzeitig vergrößert sich der prekäre Sektor. Das Wirtschaftswachstum ist solide. Die deutsche Automobilindustrie meistert die Herausforderungen des technischen Fortschritts.

 

Szenario 2

Aufgrund der Politik der sozialdemokratisch geführten Regierung konnten Hans und Hannah die Krise gut überstehen. Durch einen Fokus der Politik auf Qualifikationsmaßnahmen sowie die starke Rolle der Gewerkschaften wurden wenige Arbeitskräfte bei größeren Konzernen entlassen. Allerdings vernichtete die Krise einige Zulieferbetriebe. Durch das Arbeitslosengeld Q, sowie die Subventionierung der Batteriezellenfabriken in Deutschland konnte ein neuer Branchenzeig mit Arbeitskräften versorgt und die Arbeitslosigkeit gering gehalten werden. Gleichzeitig haben sich die Arbeitgeberanteile am Volkseinkommen reduziert, da sie die Einbrüche der Krise der deutschen Automobilindustrie tragen mussten. Durch die hohe Nachfrage nach Elektroautos durch den Binnenmarkt ist die Automobilindustrie in Deutschland jedoch auf einem guten Weg. Johann ist der Ansicht, dass die deutsche Industrie mit flexibleren Arbeitszeiten deutlich besser aus der Krise gekommen wäre. Über den neuerlichen Aufschwung zeigt er sich erfreut und hofft, ab dem übernächsten Jahr wieder vernünftige Gewinne realisieren zu können, die die Kosten der Umstellung auf Elektromotoren langfristig überlagern. Dass sein alter Arbeitsplatz mittlerweile durch Robotertechnik ersetzt wurde, stört Hans nicht. Er arbeitet nun in der Produktion von Batteriezellen und ist von der IG Metall zur IG BCE gewechselt. An seinem Entgelt hat sich nichts geändert. Hannah spielt sich mit dem Wechsel in Teilzeit. Dank der Rückkehrmöglichkeiten ergeben sich keine Nachteile in der Karriere. Die deutsche Wirtschaft hat ihren Export reduziert und erwirtschaftet eine ausgeglichene Handelsbilanz. Der prekäre Sektor hat sich reduziert. Dennoch stellt die Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen eine große Herausforderung dar. Das Wirtschaftswachstum ist solide. Die deutsche Automobilindustrie meistert die Herausforderungen des technischen Fortschritts.

 

 

Kurzum: Die deutsche Automobilindustrie verfügt über ein derart großes Polster an Kapital, dass sie nur schwer vom Markt zu bekommen ist. Deshalb ist jedes Szenario, in welchem größere Schocks die Industrie wegfegen, mehr als unrealistisch. Allerdings unterscheiden sich die beiden Politikansätze in der Frage, von wem in der Krise Flexibilität abverlangt wird. Im Falle der sozialdemokratischen Regierung wird den Beschäftigten, deren Arbeitskraft während der Agenda 2010 bereits flexibilisiert wurde, keine weitere Verschlechterung ihrer Situation zugemutet. Stattdessen wird in Qualifikation und Mobilität im Sinne der Arbeitnehmer*innen investiert. Für kleine Unternehmen kann das Schwierigkeiten bedeuten, denn ihre Kapitalreserven sind nicht derart groß. Für Arbeitnehmer bedeutet diese Politik stabile Beschäftigungsverhältnisse mit fester Arbeitszeit und guten Löhnen. Im Falle der konservativen Regierung wird mehr Flexibilität von den Beschäftigten verlangt. Arbeitszeiten schwanken stärker, Gewerkschaften werden geschwächt. Unternehmen können noch flexibler auf Schwankungen durch Entlassungen und Leiharbeit reagieren. Arbeitskräfte werden schneller arbeitslos.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: In Szenario 1 baden die Arbeitnehmer*innen die Krise aus, in Szenario 2 die Arbeitgeber*innen.

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