„Morgen, Kinder, wird’s nichts geben“

Erich Kästner schrieb 1928 ein Gedicht namens „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. Wie man am Text unschwer erkennen kann, ist es eine Parodie auf das bekannte Weihnachtslied „Morgen Kinder wird’s was geben“. Das Jahr 1928 war in der Weimarer Republik ein Jahr der industriellen Hochphase, für viele Menschen war das Leben gut – viele lebten aber auch in Armut. Traurigerweise lässt sich dieses Lied heute genauso gesellschaftskritisch singen wie damals.

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Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch Eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.

1.931.474, das ist die Anzahl der Kinder unter 18 Jahren, die 2015 in Familien aufwuchsen, die SGB-II beziehen, also Hartz 4. Hier kann man natürlich sagen, dass nicht alle Kinder, deren Eltern Hartz 4 beziehen, schlecht aufwachsen. Allerdings heißt es, dass es für 14,7% aller Kinder in Deutschland nicht so einfach ist, Klavierunterricht zu nehmen oder im Sportverein aktiv zu sein.[1] Weiterhin ist es für Kinder, die vielleicht nicht die „coolen Klamotten“ haben oder mit auf Klassenreise fahren können – weil einfach das Geld dafür fehlt – nicht so einfach, Anschluss zu finden. Ich durfte früher auch die alten Sachen meiner Schwester und meines Großcousins auftragen. Alles halb so wild, bis schon in der Grundschule Bemerkungen kamen á la: „Wie siehst du denn aus?“, „Kannst du dir nicht mal was Gescheites anziehen?“, „Haben deine Eltern nicht das Geld dir was Anständiges zum Anziehen zu kaufen? Schau mal hier die Michelle an – die sieht normal aus!“. Sowas tut weh, auch als Kind. Ich bin nicht in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, ich konnte mit den Freund*innen, die ich hatte zuhause und draußen spielen. Aber hätte ich mir die Freund*innen auch eingeladen, wenn ich kein eigenes Zimmer gehabt hätte? Wenn meine Eltern arm gewesen wären und ich mich für diese Armut geschämt hätte? Das traurigste an dieser Kinderarmut ist, dass für ebendiese Kinder die Zukunft auch nicht rosig ist. „Einmal kommt auch eure Zeit.“, schreibt Erich Kästner, aber je länger Kinder in Armut leben, desto geringer sind auch ihre Chancen für die Zukunft.

Doch ihr dürft nicht traurig werden,
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden,
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.

„Es kann ja nicht jede*r studieren!“, „Man braucht ein natürliches Gleichgewicht in der Gesellschaft“ – solche Sprüche regen mich persönlich immer auf. Ja, es kann/muss nicht jede*r studieren. Das heißt für mich aber nicht, dass Menschen aus ärmeren Familien automatisch einen Ausbildungsberuf annehmen müssen oder sich gar als ungelernte Arbeiter*innen ausbeuten lassen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wer das gesagt hatte, aber unter einem Bild mit einem offensichtlich in Armut lebenden Kind, über das ich bei Facebook gestolpert bin, stand: „Der Erfinder des ersten Krebsheilungsmittels?“ Eine absolute Chancengleichheit ist mit den heutigen Voraussetzungen eine Utopie, aber das war ein funktionierender Sozialstaat auch mal. Kinder müssen endlich nach Talenten gefördert werden. Nicht jede*r Studierende ist dazu berufen und an der Uni richtig aufgehoben, laut BR brechen 40% aller Studierenden ihr Studium ab.[2] Es kann nicht nur Akademiker*innen in Deutschland geben, aber wir müssen auch Kindern aus ärmeren Familien die Chance dazu geben, welche zu werden.

Lauft ein bisschen durch die Straßen!
Dort gibt’s Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.

Heutzutage regen sich Menschen hier in Deutschland auf, wenn aus dem „Christkindlmarkt“ der „Weihnachtsmarkt“ wird oder aus dem „Weihnachtsmarkt“ der „Wintermarkt“. Aber wie viel Christentum steckt denn noch in Weihnachten? An Weihnachten geht noch etwa jede*r Vierte in Deutschland in die Kirche.[3] Ich wage jetzt mal die steile These, dass im ländlichen Raum prozentual mehr Menschen in die Kirche gehen. Zumindest war das immer das eine Mal im Jahr, als unsere Dorfkirche tatsächlich gerammelt voll war. Kinderarmut ist aber besonders in den Städten ein großes Problem. In Berlin sind 32,2% der Kinder betroffen, in Bremen 31,6% und in Hamburg 20,8%. Für mich war Weihnachten als Kind immer großartig: Erst gemeinsam den Baum schmücken, dann in die Kirche gehen und das Krippenspiel aufführen, danach der Weihnachtsmusik der örtlichen Blaskapelle lauschen, heimgehen, gemeinsam das traditionelle Weihnachtsessen vorbereiten und verspeisen, Geschenke unter den Baum legen, auf dem Zimmer warten bis auch das Christkind die Geschenke unter den Baum gelegt hat und schließlich ewig lange Weihnachtslieder singen, bis es endlich die Bescherung gab. Ein Weihnachten ohne Krippenspiel und Kirche wäre für mich genauso komisch wie ein Weihnachten ohne Geschenke. Anscheinend ist für die Mehrheit der Deutschen das Wichtige an Weihnachten vielmehr das Zusammensein mit der Familie, die Weihnachtszeit, der Weihnachtsmarkt und natürlich die Geschenke. Aber wieviel Weihnachten bleibt dann Kindern aus ärmeren Familien?

Tannengrün mit Osrambirnen –
lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlt’s an Holz!
Stille Nacht und heilge Nacht –
Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!

Wie schön es wäre, wenn man einfach aufstehen und das Leben anpacken könnte und alles wird super. Als Jugendliche war mein Taschengeld chronisch knapp, also habe ich mir Nebenjobs gesucht, damit ich mir auch was gönnen kann – mit Freund*innen Kaffee trinken, shoppen gehen, abends auf ein Bier in die Jugendkneipe. Hätten meine Eltern allerdings Hartz 4 empfangen, wäre das nicht so einfach gegangen. Der Freibetrag für Kinder, deren Eltern keine Sozialleistungen beziehen liegt bei 7664€ pro Jahr, das sind ca. 635€ im Monat. Wenn die Eltern allerdings Sozialleistungen empfangen, liegt der Freibetrag bei 100€ im Monat. Wenn die Kinder also mehr verdienen, wird den Eltern Geld abgezogen, wenn sie es nicht melden, machen sie sich strafbar.[4] Eine deprimierend aussichtslose Situation für die Kinder, die auf eigene Faust der Armut entfliehen wollen. „Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!“

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit . . .
Ach, du liebe Weihnachtszeit!

Was lernen wir also aus Erich Kästners Gedicht? Hoffentlich lernen wir daraus, dass es endlich Zeit wird über eine gerechtere Gesellschaft nachzudenken.  Wir müssen Schulessen für Kinder aus ärmeren Haushalten nicht nur günstiger, sondern kostenfrei machen – weil ja, es gibt auch Familien, die sich den reduzierten Preis nicht leisten können! Wir müssen Weiterbildungsangebote, wie Klavierunterricht oder Sportarten, in Kooperation mit den Vereinen vor Ort in das Schulangebot integrieren, um allen dieses Angebot zugänglich zu machen. Wir müssen KiTas endlich gebührenfrei machen, damit es auch frühkindliche Bildung für alle gibt. Wir müssen es Jugendlichen ermöglichen, sich eigenes Geld durch Neben- oder Ferienjobs zu verdienen, ohne dass Geld gestrichen wird! Wir müssen alleinerziehende Elternteile unterstützen, immerhin wachsen hier 50,2% der in Armut lebenden Kinder auf. Wir müssen Arbeitszeitmodelle entwerfen, die Beruf und Familie vereinbar machen. Wir müssen so vieles tun. Aber wir dürfen nicht nur darüber reden, wir müssen auch damit anfangen.

Hier ist nicht nur die Politik gefragt, sondern jede*r einzelne von uns. Erziehe ich mein Kind so, dass es über andere lacht oder tuschelt, wenn sie nichts haben oder dass es ihnen die Hand reicht? Werfe ich meine Klamotten weg oder spende ich sie? Landen Lebensmittel, die ich falsch eingekauft hatte im Müll oder stell ich sie ihn Foodsharing-Gruppen? Verkaufe ich mein Sofa für 50€ oder verschenke ich es?

Ich wünsche euch allen eine besinnliche und frohe Weihnachtszeit.

 

[1]https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Factsheet_WB_Kinderarmut_DE_09_2016.pdf

[2]http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campusmagazin/studienabbrecher-studienfrust-100.html

[3]http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/nur-wenige-deutsche-gehen-weihnachten-in-die-kirche-13974748.html

[4]http://www.stern.de/wirtschaft/job/hartz-iv-wehe–wenn-du-arbeitest-3810802.html

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