Über die Entfremdung zwischen politischer Linken und den Arbeiter*innen
Schon im Herbst 2015, als den Menschen in Deutschland zum ersten Mal das volle Ausmaß der weltweiten Flüchtlingssituation bewusst wurde und Angela Merkel ihre ikonischen Worte sprach, kam in meinem Umfeld eine Diskussion auf die ich selbst lange von mir wies. Als dann Anfang 2016 die AfD mit großen Erfolg in die Landtage zog wurden die Stimmen lauter, doch wieder verharrte ich auf meiner Position. Doch nun, einige Tage nach Donald Trumps Wahlerfolg in den USA setzt auch bei mir ein Prozess der Selbstkritik ein, der wahrscheinlich weiten Teilen der europäischen und amerikanischen Linken gut tun würden. In dieser Diskussion kam immer wieder der Vorwurf auf, ich und andere junge Linke aus universitären Umfeld könnten die mit Globalisierung, Migration und gesellschaftlichem Wandel verbundenen Sorgen der „kleinen Leute“ gar nicht verstehen. Da heißt es schnell man solle doch mal etwas „richtiges“ Arbeiten um zu sehen, wie es ist, wenn man Angst um Arbeitsplatz, Rente oder Sozialleistungen haben muss. Man könne zwar im Bezug auf Geflüchtete, Politik oder Wirtschaft „studiert“ daher reden, sei aber meilenweit von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt. Doch woher kommt sie, diese immer stärker spürbare Entfremdung zwischen der (akademischen) politischen Linken und den Arbeiter*innen, sowie dem in prekären Verhältnissen lebenden Teil unserer Gesellschaft? War es nicht lange Hauptbestandteil linken Denkens im Allgemeinen und gerade auch des sozialdemokratischen Narratives, sich für die Schwachen einzusetzen? Dass gerade dieser, sich vergessen fühlende Teil der Gesellschaft in den USA entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahl war, sollte uns gerade mit Blick auf den erstarkenden Rechtspopulismus in Deutschland und Europa zu einem Umdenken bewegen.
„Vom Kopf auf die Füße“ – Raus aus der eigenen Bubble
Beobachtet man beispielsweise die internen Debatten der Jusos, fällt eine Parallele zu den US-Universitäten auf. Ein großer Teil der zu diskutierenden Themen hat sich vollständig von der Situation eines großen Teils Bevölkerung entfernt und ist nur noch auf die Befindlichkeiten einer jungen, gut ausgebildeten Mittelschicht zugeschnitten. Ausdruck des Ganzen ist dann, dass eine Diskussion darüber ob nun omnivorische, vegetarische oder vegane Ernährung das Maß aller Dinge ist, ausführlicher und emotionaler geführt wird als beispielsweise die Frage, wie sich Rechtspopulist*innen trotz ihres aggressiven Neoliberalismus als moderne Version der Arbeiter*innenpartei stilisieren können. Natürlich kann es sinnvoll sein mit Biomate und Fairphone in der Hand darüber zu reden, ob historische Texte in Universitätsseminaren „Triggerwarnungen“ benötigen, da sich jemand diskriminiert fühlen könnte. Dem alleinerziehenden Vater, der es trotz Nebenjob nicht schafft seinen beiden Kindern einen Schulausflug zu ermöglichen, dürfte es trotzdem egal sein, wer jetzt wo „cultural appropriation“ betrieben hat und was genau jetzt alles sozial konstruiert ist. Ein weiteres Problem ist die „Blase“, die wir durch unsere Diskussionskultur und unsere sozialen Kontakte schaffen. Diese wird durch die Nutzung sozialer Medien sogar noch verstärkt. Zum einen ist es so, dass wir beginnen nur noch mit ähnlich Gesinnten über eben genau diese Themen zu sprechen, unabhängig von deren politischer Relevanz und Bedeutung für andere soziale Gruppen. Zum anderen verlieren wir den Blick für die Sorgen eines Teils unserer Mitmenschen, was die oben angesprochene Entfremdung immer weiter antreibt. Auf die Spitze getrieben wird dieser Effekt von den Algorithmen der sozialen Medien, die unseren Blick auf die Realität noch weiter in diese spezielle Richtung lenken. Der Autor Eli Pariser beschrieb diesen Effekt bereits 2011 in seinem Buch „The Filter Bubble“. Dort warnte er davor, dass Meldungen die uns im Internet angezeigt werden, nach unseren bereits vorhandenen Ansichten und Interessen sortiert und dementsprechend angezeigt werden. Dies führt vor allem dazu, dass das was wir online sehen uns in unserem Weltbild bestätigt1. Besondern deutlich wird dies, wenn man die Tweets zum Amoklauf im Münchner OEZ im letzten Sommer betrachtet. Gerret von Nordheim untersuchte 80.000 dieser Beiträge und stellte dabei fest, dass zwei parallele Deutungswelten entstanden waren. Auf der einen Seite wurde objektiv über die Tat berichtet und gesprochen, während man auf der andere Seite überzeugt war, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelt und munter gegen Politik und Geflüchtete gehetzt wurde2 . Doch nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums sind solche Erscheinungen zu beobachten, auch wir Progressive müssen unsere eigenen Filterblasen hinterfragen. Vor allem wir dürfen uns nicht in einer Parallelwelt aus Jungleworld, Taz und den Posts von Genoss*innen verlieren, sondern müssen unseren Blick auf die gesamte Gesellschaft richten.
„Die Freiheit der Andersdenkenden“ – Eine Kritik linker Debattenkultur
Wenn wir den Blick wieder in die USA richten, sehen wir, dass sich dort einen Kandidat gab, der sich trotz oder gerade wegen bewusster Tabubrüche am Ende durchsetzen konnte. Ein rassistischer und sexistischer Antipolitiker, der einen an Menschenverachtung kaum zu überbietenden Wahlkampf betrieb. Dennoch möchte ich nicht der Mehrheit der Wähler*innen in den Vereinigten Staaten unterstellen, dass sie ebenso radikale Positionen teilen. Auch bei uns gibt es seit geraumer Zeit eine Partei, die durch Tabubrüche und Hass auf sich aufmerksam macht. Trotzdem möchte ich auch hier nicht allen Sympathisant*innen dieser Partei unterstellen, sie würden sich wünschen, dass Deutschland seine Konflikte wieder durch „Eisen und Blut“ löst oder an den Staatsgrenzen auf Kinder geschossen wird. Natürlich gibt es einen nicht zu unterschätzenden Teil von Rassist*innen, die dank der AfD nun keine Hemmungen haben offen rechts zu wählen. Ein anderer, vermutlich größerer Teil, besitzt aber möglicherweise kein geschlossenes Weltbild und ist noch nicht vollständig an die Rechtspopulist*innen verloren. Es sind, wie in den USA, diejenigen, die sich politisch nicht mehr vertreten fühlen, in prekären Verhältnissen leben oder Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Die Aufgabe der Sozialdemokratie sollte es nun sein, die Ängste dieser Menschen ernst zu nehmen und zu bekämpfen. Das ist auch der Hauptunterschied zu einer Union, die genau diese Ängste noch weiter schürt um daraus politisches Kapital zu schlagen. Das Verhalten vieler links denkender Menschen sieht in der Realität aber leider anders aus. Sieht sich ein Mensch nach der vermeintlichen „Alternative“ um, sehen viele nicht seine Ängste sondern ihn selbst als bekämpfenswert an. Er*Sie wird als rechtsaußen stigmatisiert oder einfach für dumm erklärt und ein Dialog vollständig verweigert. Dieses Vorgehen ist fatal, da es die Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreibt und den*die Betroffene immer weiter in Richtung der Rechten treibt. Wie soll denn der Hass auf die vermeintlichen „Systemparteien“ und die Politikverdrossenheit gemildert werden, wenn die Vertreter*innen dieser Parteien einzig die Konfrontation suchen? Hinzu kommt ein linker Sozialchauvinismus, der vorhandene Gräben massiv vertieft. Aussagen wie: „Wenn ein Flüchtling der kein Deutsch kann und keine Ausbildung hat dir den Job wegnehmen kann, bist du selbst dran Schuld“ sind gleich auf mehreren Ebenen kontraproduktiv. Egal ob Ängste nun irrational oder begründet sind, sie sind für den jeweiligen Menschen Realität und werden durch solche Statements noch verstärkt. Zudem sind sie Ausdruck eines gefährlichen neoliberalen Zeitgeists der auf ständige Selbstoptimierung drängt und schon allein deswegen von uns als Jungsozialist*innen abgelehnt werden sollte. Die schlimmste Konsequenz ist jedoch, dass diese Arroganz und das herabwürdigen von Menschen niedrigeren Bildungsstandes, die Entfremdung zwischen junger Linken und dem Arbeiter*innenmilieu weiter vorantreibt. So verlieren wir die Bindung zu unserer klassischen Wähler*innenschaft und treiben diese erneut in die Richtung von Rattenfängern, die vermeintlich Verständnis für sie aufbringen und sich als ihre Stimme ausgeben. An dieser Stelle ist auch Kritik an der verbandsinternen Diskussionskultur angebracht, vor allem im Umgang mit Interessierten sowie Neumitgliedern. Leider wird zu oft ein harscher und belehrender Ton geführt, der eher abschreckt als zum Nachdenken oder einem Gespräch auf Augenhöhe einzuladen. Für jede ungelenke oder wenig reflektierte Aussage gibt es den passenden „Ismus“, der als Vorwurf formuliert wird, das Gegenüber in eine gewisse Richtung stellt und eine Diskussion erschwert. Das verstärkt den Eindruck einer elitären Gruppe mit eigene Sprachregeln, die nicht gerade zum Mitmachen einlädt. Unser Ziel sollte es sein, die Gesellschaft dort abzuholen wo sie ist, um so eigene progressive Ideen in sie zu tragen und für Veränderung zu sorgen. Dabei ist es nicht zielführend, gerade auch auf sprachlicher Ebene, unsere eigenen hohen Ideale als Voraussetzung eines Diskurses zu definieren.
„Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren“ – Zurück zu unserem Markenkern
Wollen wir verhindern, dass sich in Deutschland ähnliche Verhältnisse etablieren wie in den USA oder bei unseren europäischen Nachbarn, ist es jetzt an der Zeit zu Handeln. Der aktuelle Rechtsruck und die damit einhergehende Polarisierung der Öffentlichkeit zeigt, dass die Zeit der merkelschen Konsenspolitik vorbei ist. Anstatt immer nur von einer schwammig definierten Mitte zu sprechen, muss sich die SPD endlich wieder als linke Volkspartei und Stimme der Arbeiter*innen sowie sozial Schwachen sehen. Das Beispiel Österreich lässt erkennen, dass die GroKo kein Dauerzustand werden darf, da dieser im Ernstfall nur den Rechtspopulist*innen nützt. Vor allem mit Blick auf die mögliche Mehrheit von Rot-Rot-Grün bedeutet dies aber auch, dass die drei linken Parteien endlich ihre ideologischen Grabenkämpfe überwinden müssen. Neben der „sozialdemokratischen“ Kuscherei vor Wirtschaftsinteressen sind hierbei vor allem die voranschreitende „Kretschmannisierung“ der Grünen und die anti-Establishment Rhetorik einer Sarah Wagenknecht hinderlich. Statt ständig das Trennende zu betonen, sollte wir uns auf unsere größte Gemeinsamkeit, das Ziel einer freien und sozial gerechten Gesellschaft konzentrieren. Deshalb sollten bei aller Relevanz, vor allem in den Jugendorganisationen, auch die Diskussionen über Identitätspolitik, Veggie-Day und Binnen-I für den Moment hinten angestellt werden. Unser Ziel muss ein vernünftiger, linker Lagerwahlkampf sein der sich auf die Kernthemen Gerechtigkeit, Umverteilung und Kampf gegen Rechts konzentriert. Die Politik muss den Menschen endlich wieder das Gefühl geben, dass sie ihre Ängste und Sorgen ernst nimmt und abbaut, etwas gegen die auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich tut und eine immer weiter gespaltene Gesellschaft wieder zusammenführt. Wer den Menschen das Gefühl gibt für sie da zu sein und ihnen die Angst vor dem sozialen Abstiegt nimmt, immunisiert sie (bis auf einen unverbesserlichen Teil Antidemokrat*innen) im großen Maß vor der rechten Propaganda. Wenn wir es dann noch schaffen, es jedem Menschen unabhängig von Klassenzugehörigkeit, Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung zu ermöglichen, durch Bildung und ehrliche Arbeit den sozialen Aufstieg zu schaffen, blicken wir in eine vielversprechende Zukunft. Das oft beschworen Gespenst der „linken Republik“ ist die einzige Möglichkeit, einer AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, also lasst uns dafür kämpfen!
1http://www.spiegel.de/netzwelt/web/vorgefiltertes-web-die-ganze-welt-ist-meiner-meinung-a-750111.html